Der Zwang, in unserer Gesellschaft Wagenburgen zu bauen — als seien wir im Wilden Westen.

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Vor einigen Wochen las ich im Social Web den Eintrag eines Bekannten. Er hatte einen Artikel über schlechte Zustände im Gesundheitssystem verlinkt und schrieb seine eigenen Gedanken dazu — sinngemäß in etwa so:

Ich kann das aus eigenen Erfahrungen aus jüngerer Vergangenheit nur bestätigen, es wird im deutschen Gesundheitswesen immer schwieriger, vernünftig versorgt zu werden, das sind ganz unhaltbare Zustände.

Ich kenne mich mit dem deutschen Gesundheitwesen und seinem Zustand nicht aus, ich kriege hin und wieder aus der Presse mit, dass die Dinge offenbar im Argen liegen — aber um die Einzelheiten und die Korrektheit des Artikels geht es mir gar nicht.

Ich will hier nur sagen: Bis zu diesem Punkt war der Eintrag erst einmal nachvollziehbar.

Erschüttert hat mich, wie es dann weiter ging. Der Text führte nämlich anschließend die Empfehlung des Bekannten an sein soziales Netzwerk aus; er beschrieb, was diese Zustände aus seiner Sicht für den einzelnen bedeuten — und wieder gebe ich aus der Erinnerung wieder, was dort stand:

Ich kann Euch nur sagen: Kümmert Euch um Eure Liebsten, sorgt dafür, dass es denen, die Euch am nächsten stehen, gut geht, passt auf sie auf, damit ihnen nichts passiert, seid wachsam.

Das mag auf Anhieb erst einmal unschuldig erscheinen, und doch ist es aus meiner Sicht eine absolut bestürzende Kapitulation. Aus zwei Gründen:

Zum einen spricht aus diesen Zeilen absolute Hilflosigkeit. Die einzige Antwort, die es auf die Zustände gibt, ist Hoffnungslosigkeit. Keinerlei Schimmer einer Erwartung, dass sich die Dinge auch wieder bessern könnten — dass unser System zwar Fehler hat, dass diese aber auch behoben werden können.

Zum zweiten spricht eine extrem apolitische Haltung aus dieser Empfehlung. Die schlimmen Zustände als politische Aufgabe zu begreifen, wird gar nicht in Erwägung gezogen. Stattdessen bedingt die eingenommene Haltung dann zugleich die empfohlene Handlung: Wir sind aufgrund der schlechten Zustände des Systems, in dem wir leben, letztlich auf uns selbst zurückgeworfen. Wir können uns nur noch auf uns selbst verlassen. Es ist wie beim Treck der Auswanderer im Wilden Westen der USA, der auf feindlichem Terrain gezwungen ist, eine Wagenburg zu bilden und zu hoffen, in der Nacht nicht angegriffen zu werden. „Kümmert Euch um Eure Liebsten, seid wachsam.“

Für mich klingt das nach Ende der Zivilisation — zivilisiert ist eine Gesellschaft doch, in der Regeln und Recht herrschen, und in der die Solidarität der Menschen untereinander dafür sorgt, dass wir uns grade nicht allein gelassen fühlen müssen, wenn Not herrscht. Wenn jeder nur für seinen eigenen kleinen Stamm einstehen, seine Leute auf das Notdürftigste verteidigen muss, dann scheint es diese Zivilisation nicht mehr zu geben.

Mein Bekannter ist Millenial und hat grade sein erstes Kind bekommen. Ihm geht es wirtschaftlich ganz gut, soweit ich weiß. Und ich will ihm keinen Vorwurf machen (daher habe ich das hier ja auch alles komplett anonymisiert).

Aber ich muss mich und uns alle fragen, warum der zweite Absatz des Textes nicht wie folgt weiterging?:

Wir müssen dafür kämpfen, dass diese Zustände behoben werden, es kann doch in einem der reichsten Länder der Erde nicht angehen, dass wir ein so zerschundenes Gesundheitswesen haben, dass nur noch die Reichen vernünftig behandelt werden?!

Natürlich ist die Reaktion auf eine Situation immer eng verknüpft mit der jeweils handelnden und denkenden Person. Aber ich bin relativ sicher, dass viele den politischen Kampf überhaupt nicht mehr als Option wahrnehmen, sondern letztlich von unserem Gemeinwesen überhaupt nichts mehr erwarten.

Das bedeutet: Wir werden, wenn wir das nicht ändern, über kurz oder lang unsere Zivilisation verlieren. Denn auf diese Weise machen wir uns auf den Weg zurück in die Barberei.

Vor diesem Hintergrund darf uns wohl nicht überraschen, dass Zuwanderung als große Bedrohung gesehen wird — und dass die barbarischen Parteien und Politiker an Zulauf gewinnen.

3 Kommentare

  1. Also zu behaupten, unser Gesundheitssystem sei „zerschunden“ halte ich für eine gewagte These.
    Und dazu aufzurufen, sich um seine Liebsten zu kümmern, halte ich für richtiger, als immer nur nach dem Staat zu rufen, wenn irgendetwas schief läuft.
    Die Mischung machts!

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  2. Grundsätzlich bin ich dabei, dass es wichtig ist sich, umeinander zu kümmern.
    Gleichzeitig finde ich es wichtig, Missstände auch auf höheren Ebenen (also auch politischen) anzugehen. In die Hoffnungslosigkeit zu verfallen, der Einzelne könne nichts tun, finde ich fatal.
    Es gab Menschen, die haben hart dafür arbeiten und kämpfen müssen, dass wir sozialere Systeme bekommen haben. Sonst wären wir vielleicht in Zeiten des Manchester-Kapitalismus stehen geblieben.
    Doch Zeiten und Machtverhältnisse verändern sich. Geschichten wiederholen sich, wenn man die historischen Hintergründe aus den Augen verliert.
    Wenn wir eine lebenswerte und liebenswerte Gesellschaft wollen, dann dürfen wir uns nicht nur in den Cocoon unserer Familie zurückziehen. Dann ist es wichtig, das Wir-Gefühl darüber hinaus zu aktivieren.

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  3. Jaja….es dämmert immer mehr Menschen und es wird interessant sein, zu sehen, ob eine überalternde und übersättigte Gesellschaft sich tatsächlich dazu aufraffen kann, die Veränderung aktiv zu gestalten. Im Moment sieht es nicht danach aus. Selbst die „Millienials“ scheinen inzwischen von der digitalen Transformation überfordert zu sein. Die Demografie scheint sich auf zahlreichen Ebenen zu „rächen“. Denn noch ältere Generationen haben vom digitalen tuten und blasen keine Ahnung. Wenn man denen von Künstlicher Intelligenz etwas erzählt, halten die einen für Verrückt. Trotzdem meint Deutschland in diesem Bereich Weltspitze zu werden ¯\_(ツ)_/¯. Was für uns mit diesen Entwicklungen einfach klar wird (das haben wir bereits mehrfach betont): Die rationale Aufklärung ist gescheitert. Die Erhöhung des rationalen Verstands des Individuums (I-Book, I-Pad…etc.) auf Kosten des Wir-Gefühls, hat letztlich dazu geführt, dass Menschen auf Grund Ihrer Karrieregeilheit (die sie für vernünftig halten) immer später oder keine Kinder mehr bekommen. Das ist mit Gewissheit die dickste Wurzel des demografischen Wandels. Doch gleichzeitig, ist die Spaßbremse für die Erde auch erleichternd. Denn Gott sei dank schrumpfen die entwickelten „Hochkulturen“ welche im Moment die Erde am stärksten ausbeuten und zerstören. Deshalb beobachten wir die Entwicklungen auch mit gemischten Gefühlen. Einerseits ist es gut, dass die alles verschlingende westliche Zivilisation zerbricht oder die Quelle Ihres Wachstums versiegt. Andererseits wird die Masse einen Sündenbock suchen den sie für Ihren Niedergang verantwortlich machen kann oder sie beginnt wieder damit auf aggressivste Art und Weise andere Kulturkreise ausbeuterisch zu zerstören um Ihren eigenen Zerfall zu mildern…..passend zum Zeitgeist unser aktuellster Track… „Heuchelei“ https://hearthis.at/radiomorgenland-fu/jazzbanana142/

    aus dem Morgenland

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