Zur Europawahl: wir brauchen eine zukunftsfähige Vorstellung von Identität – die Tridentität

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Um den Herausforderungen der Zukunft gerecht zu werden, müssen wir meiner Ansicht nach eine neue Vorstellung davon entwickeln, welche Zugehörigkeiten wir leben und erleben wollen. Jahrtausendelang war die menschliche Identität geprägt durch die Zugehörigkeit zu kleinen überwiegend lokalen Einheiten. Im Zuge der Erfindung des Nationalstaats zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert ist die Zugehörigkeit zur Nation dann schrittweise immer wichtiger für die Menschen geworden.

Mittlerweile merken wir aber, dass die Erfindung „Nation“ mit den Herausforderungen der Zukunft ganz offenbar überfordert ist. Wenn wir weiter auf nationale Grenzen und nationale Abgrenzung bauen, werden wir keine tragfähigen Antworten für die Zukunft finden. Aus meiner Sicht müssen neue Ausrichtungen von Identität und Zugehörigkeit her. Genauso wie Menschen einst erlernt haben, dass sie irgendwann Franzosen oder Deutsche werden würden (und nicht mehr Preußen, Sachsen oder Bretonen waren), können wir ja auch heute neue Identitäten lernen. Natürlich ist klar, dass dies ein langer Prozess ist, der nicht über Nacht gelingen wird. Umso wichtiger ist, dass dieser Prozess angestoßen wird.

In Politik und Gesellschaft sollten wir uns daran ausrichten, die nationale Identität in ihrer Bedeutung bewusst zurückzufahren und dafür drei andere Identitäten ganz bewusst zu stärken:

1. Die lokale oder regionale Identität
2. Die europäische Identität
3. Die globale Identität

Lokale Identität
Wir Menschen können nur wirklich erfassen und fühlen, was in unserer erweiterten Nachbarschaft geschieht. Zugleich ist diejenige Politik, die unser Leben oft am meisten verändert, die lokal entschiedene Politik. Und drittens sind die Antworten auf viele Herausforderungen der Menschheit dezentrale Antworten, in denen Menschen vor Ort ihre Probleme lösen, anstatt Lösungen über hunderte oder gar tausende Kilometer zu importieren. Die Energie der Zukunft wird lokal nachhaltig produziert, ebenso wie die Landwirtschaft der Zukunft wieder lokaler und näher am Verbraucher organisiert werden muss. Mobilität wird durch neue urbane und regionale Lösungen zukunftsfähig ebenso wie Gesundheits- und soziale Dienste lokal entwickelt werden müssen. Eingliederung und Einbürgerung von zuwanderenden Menschen lässt sich nur lokal leisten.

Aus diesen und vielen weiteren Gründen muss künftig eine funktionierende Demokratie stärkeren Fokus auf die Regionen und Städte legen, und mehr Entscheidungsgewalt in die lokalen Einheiten geben. Zugleich muss auf der regionalen und lokalen Ebene ein gemeinsames Gefühl von politischer Zugehörigkeit, Verantwortung und Eigenwirksamkeit geschaffen werden. Auf diese Weise ermöglichen wir es, dass die besten Entscheidungen für viele Herausforderungen vor Ort auch durch Menschen vor Ort mittels Lösungen vor Ort getroffen werden. Denn nicht zuletzt: nur im Rahmen unserer Gemeinden, Orte, Städte und Regionen können wir das Umfeld schaffen, das ein glückliches Leben ermöglicht. Leben findet zuhause statt.

Europäische Identität
Wie eingangs beschrieben hat die Nation als Ordnungsrahmen keine sinnvolle Zukunft in einer globalisierten und vernetzten Welt. Unsere Weltbevölkerung wächst stetig weiter an. Die Reibungspunkte multiplizieren sich. Wenn wir innerhalb Europas weiter künstliche Abgrenzungen beibehalten oder gar ausbauen, arbeiten wir aktiv gegen eine friedliche und prosperierende Zukunft.

Basken sind Franzosen und Spanier. Tiroler sind Österreicher und Italiener. Elsässer gehörten lange mal zu Deutschland und mal zu Frankreich. Süddänen haben oft mehr mit Schleswig-Holsteinern gemein als Berliner mit Südschwaben. Und so weiter. Unsere nationalen Grenzen sind – das sollten wir nie vergessen – üblicherweise fast völlig fiktionale Erfindungen. Was wir stattdessen brauchen, ist das weitere aktive Einreißen von Zäunen und Mauern sowie das bewusste und gezielte Aufeinanderzugehen. Auch wenn wir in Europa in den letzten dreißig Jahren beim Entfernen von Zäunen Erfolge vorweisen konnten, ist der zweite Teil — das aktive Aufeinanderzugehen — nicht ansatzweise im notwendigen Maß vollzogen worden. Genau daran droht Europa heute zu scheitern. Viele Veränderungen haben bestimmten Wirtschaftsinteressen gedient, aber nicht die Schaffung einer europäischen Identität bewirkt. Hier herrscht großer und sehr dringender Nachholbedarf, und daran muss gearbeitet werden.

Das alles bedeutet nicht, dass wir die Nation absehbar abschaffen könnten. Aber wir wollen angesichts ihrer Schwächen darauf hinarbeiten, dass viele Aufgaben, die heute national erledigt werden und nicht auf regionale/lokale Ebene verlagert werden können, nach Europa wandern. Und wir wollen hart dafür arbeiten, dass die Bürger Europas nicht nur verstehen, sondern auch fühlen lernen, sich in dieser größeren Einheit zuhause zu fühlen.

Das erfordert allerdings zwei grundlegende und miteinander verknüpfte Veränderungen an Europa: Zum einen muss Europa demokratischer werden. Zum anderen muss Europa sich am Wohlergehen und den Interessen der BürgerInnen und Bürger ausrichten. Heute richtet sich Europa überwiegend an den Regeln der Maastricht-Kriterien aus, was zwar auf dem Papier für funktionierende Zustände sorgen soll, dies aber in der Realität schon lange nicht mehr tut. Es gibt viel zu tun, um Europa zu der Realität werden zu lassen, die ein echter europäischer Traum verspricht. Also müssen wir damit anfangen.

Wer heute für Europa ist, kann nur für eine Europa sein, dass sich enorm verändern muss. Dafür sollte auch die Zukunft des Euro kritisch diskutiert werden – sorgt er für mehr Zusammenhalt in Europa, oder droht er uns immer weiter zu spalten? Falls Letzteres der Fall sein sollte, frage ich mich, ob man weiter rücksichtslos an ihm festhalten muss?

Globale Identität
Wir sind als Menschen bislang noch viel zu wenig in der Lage, die globalen Auswirkungen unseres alltäglichen Tuns ernsthaft erfassen oder emotional wirklich verstehen zu können. Weil es diese globalen Auswirkungen unseres Tuns aber gibt, müssen wir diesem Defizit aktiv begegnen und uns selbst als Weltbürger wahrzunehmen lernen. Damit ist nicht gemeint, dass wir nun alle die Erde bereisen müssen — vielmehr geht es darum, uns immer wieder daran zu erinnern, dass tägliche kleine Entscheidungen, die wir vor Ort treffen, teilweise ganz ungeahnte Auswirkungen am anderen Ende der Erde haben — auf Menschen, Tiere, Ökosysteme, Gesellschaften.

Weil wir günstiges Obst im Supermarkt erwarten, gibt es ein ökonomisches Interesse daran, Flüchtlinge als billige Arbeitskräfte in Süditalien auszubeuten. Weil wir preiswertes Benzin kaufen wollen, entscheiden Regierungen in Südamerika, den Regenwald nicht zu schonen, sondern ihn abzuholzen. Weil wir nicht auf das Verbrennen von Braunkohle verzichten wollen, steigen in Bangladesh die Wasserpegel. Es ist unbequem, sich diesen Gedanken zu stellen, es macht den Alltag mühsamer und anspruchsvoller, und es stellt viele Dinge in Frage, die wir als selbstverständlich schätzen und lieben gelernt haben. Das dürfen aber kein Gründe mehr sein, in der Politik so zu tun, als gäbe es diese Effekte nicht. Vielmehr wird es höchste Zeit, dass wir unser Handeln und unser Denken daran ausrichten, dass wir alle Bewohner einer sehr begrenzten Welt sind, in denen unser Tun das Leben vieler anderer Menschen beeinflusst — und umgekehrt.

Tridentität
Ich glaube, dass wir für eine vernünftige und zukunftsgewandte Politik im 21. Jahrhundert ganz explizit über unsere Identität nachdenken müssen. Denn das unreflektierte Nachlaufen einer gestrigen Vorstellung von „nationaler Identität“ – die nur Schaden anrichtet und uns keine Dienste mehr in einer immer komplexeren Welt erweist – ist eines der größten Probleme unserer Zeit.

Mein Vorschlag daher zur konstruktiven Auseinandersetzung mit den ewiggestrigen Rechten: das Zurückdrängen des Nationalstaates und die „Tridentität“ – der Dreiklang aus regionaler, europäischer und globaler Identität – als unsere bessere Antwort.

2 Kommentare

  1. Jeder Mensch verfügt bereits über eine Reihe von Identitäten (die im übrigen alle künstlich sind), welche er davon „verwendet“ leitet sich aus dem Kontext, der Situation in der sich in dem Augenblick befindet, ab. Eine natinonale Identität nur mit ewig gestrigen Rechten in Verbindung zu bringen, oder gar zu behaupten die Identität als Mitglied einer Nation wäre die „natürliche“ Folge einer Identität als „Sachse“ die man gelernt hätte, ist mir zu kurz gegriffen.

    Zu Glauben, man könnne eine globe Veränderung durch ein lokales, singuläres Verhalten ändern, ist mir auch zu wenig. Solange es Anreize gibt sich erfolgreich defekt zu verhalten werden Menschen das tun. Es geht nicht ohne Politik, und zwar auf nationaler, europäischer und am Ende um globale Politik.

    Das wird dauern.

    Das wrd einen langen Atem brauchen.

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