Mein syrischer Freund, mein britischer Freund: zwei Überraschungen.

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Ein Ergebnis dieses Projekts ist, dass ich mittlerweile jeden Tag Gespräche mit Freunden und Bekannten zur politischen Lage führe — wie wohl viele Menschen derzeit. Diese Woche hatte ich zwei interessante Gespräche mit Freunden, die mir über die Länder, aus denen sie stammen, und die uns derzeit außenpolitisch beschäftigen, interessante neue Einblicke geben konnten.

Assad, vielleicht doch nicht nur ein Monster in Menschengestalt?
Gestern war ich mit einem syrischen Freund Kaffee trinken. Ich habe ihn vor einem guten halben Jahr bei einer Veranstaltung zur Flüchtlingshilfe kennengelernt. Seitdem treffen wir uns in unregelmäßigen Abständen. Gestern war unser Gespräch politischer als je zuvor, eben weil ich inzwischen mit diesem Projekt begonnen habe.

Er hat mir einiges darüber erzählt, wie er nach Deutschland kam — er war zunächst aus Sorge davor, von Assads Armee im Bürgerkrieg eingezogen zu werden, nach Dubai geflüchtet, wo er zwar zwei Jahre lang in der Firma eines ausgewanderten Syrers arbeiten konnte, wo den Syrern das Leben vom dortigen Regime aber auch schwer gemacht wird. Dann hatte die Familie die Möglichkeit, nach Deutschland zu kommen, der Vater informierte ihn darüber am Telefon, und er schloss sich sofort an. Er erzählte davon, dass sein Vater inzwischen wieder nach Damaskus zurückgekehrt sei, weil er es nicht mehr ausgehalten habe, hier die Hände in den Schoß zu legen — obwohl das Leben in Damaskus unerträglich sein muss: fließendes Wasser oft nur eine Stunde am Tag, und zwar morgens um 4, Stromzufuhr immer wieder stundenlang unterbrochen, die dauernde Angst vor dem Tod, oder besser: das Fügen in das Schicksal, dass das Leben jeden Moment vorbei sein kann. Er erzählte, ein Cousin von ihm sei vor einigen Tagen auf der Straße von einer Bombe getötet worden. Mein Freund sagte, dass er von den Menschen, die heute noch in Damaskus bleiben, nur noch als Helden spricht. Und dass er sich selbst nicht mal vorstellen kann, wie das Leben dort funktioniert.

Irgendwann kam das Gespräch auf Assad und Putin zu sprechen. Und er sagte interessante Dinge:

Ja, ich kann Assad und dessen Regime auch nicht leiden. Aber bevor dieser Wahnsinn angefangen hat, war unser Leben in Syrien auch unter Assad ziemlich gut.

Das Land habe gut funktioniert, mit einer kostenlosen Gesundheitsversorgung, mit einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung. Dann erwähnte er eine Situation, in der er noch in Damaskus TV-Nachrichten von Al Jazeera gesehen habe. Es sei berichtet worden, wie Demonstranten vom Assad-Regime grade brutal niedergekämpft würden — und zwar in seiner Straße. Er trat vor die Tür und sah: nichts. Manche Medienberichte zu den Greueln der Regierung seien also auch nicht unbedingt die reine Wahrheit gewesen. Dennoch, eine Revolution sei aus seiner Sicht keine schlechte Idee — aber das, was da seit 2011 in Syrien passiere, sei keine wirkliche Revolution. Er findet, dass man nur dann von einer Revolution sprechen könne, wenn es einen Plan, ein Ziel, und eine Strategie gebe. Und das sei — aus seiner Sicht — nicht ansatzweise gegeben bei denen, die sich gegen Assad aufgelehnt hätten.

Ich war überrascht.

Ich hätte erwartet, dass ein gut gebildeter syrischer Flüchtling auf Assad schimpfen und ihn verteufeln würde. Aber das tat er gar nicht, sondern er hatte eine eher moderate Haltung, und es wurde deutlich, dass die bei uns verbreitete Idee, dass Assad nichts anderes sei als der Teufel in Menschengestalt nicht notwendigerweise von allen Syrern geteilt wird, die hierher geflohen sind.

Seitdem versuche ich mir vorzustellen, wie es sich anfühlt, wenn das eigene Land in nur fünf Jahren von relativer Prosperität in totale Zerstörung zerfällt. Und es will mir nicht gelingen. Wie findet mein Freund den Lebensmut und die gute Laune, morgens aufzustehen, das Start-Up der Familie voranzubringen, oder in einem Teilzeitjob bei einer Flüchtlingsinitiative zu arbeiten?

Ein britischer Blick auf die Freizügigkeit in der EU
Zwei Tage zuvor saß ich mit einem englischen Freund in einer Kneipe zusammen. Irgendwann begannen wir, über den Brexit zu sprechen. Er sagte viele Dinge dazu, und mich hat überrascht, wie verständnisvoll ein in Deutschland lebender (und exzellentes Deutsch sprechender!) junger Brite über die Entscheidung Großbritanniens denkt, die EU zu verlassen. Ein zentraler Punkt war, dass er aus einer Familie stammt, die über die EU schimpft, seit er denken kann. Und dass das Land niemals eine Vision mitgetragen habe oder mittragen würde, die noch mehr Nähe und Vereinigung vorsieht, als bisher schon in der EU erreicht ist.

Nationale Souveränität, zum Beispiel in Fragen internationaler Handelsbeziehungen, sei für viele Menschen in Großbritannien wichtig — also wenn es gelte, ein Freihandelsabkommen mit den USA auszuhandeln. Oder auch nationale Souveränität darin, über die Verwendung der eigenen Steuergelder komplett im Land zu bestimmen und nicht einen substanziellen Anteil davon nach Brüssel zu überweisen. Natürlich gibt es starke Gegenargumente dazu, aber sie verhallen letztlich ohne Wirkung, wenn die grundlegende Haltung auf der anderen Seite darin besteht, sich letztlich ausschließlich und allein mit dem eigenen Land zu identifizieren und keinerlei europäische Solidarität zu kennen. Und so dachte ich, dass es letzten Endes vielleicht eine gute Sache sei, dass die Briten Europa nun nicht mehr bremsen können (wenn es nicht der Anfang einer katastrophalen Kettenreaktion wird …). Mein Freund stimmte dem zu.

Was mich aber in diesem Gespräch überrascht hat, war das Thema Freizügigkeit. Ich hatte vermutet, dass es auch den Briten vor allem um Flüchtlinge und die Angst vor dem Terror gehe (über deren Idiotie ich mich ja bei sich bietender Gelegenheit gern prächtig aufregen kann …), aber mein Freund sagte, das sei nicht das Thema. Sondern das Thema sei Polen — als Platzhalter für verschiedene vor allem osteuropäische Länder. Was er damit meinte, wird aus diesem Zitat deutlich, das ich aus meiner Erinnerung wiedergebe, das aber ziemlich genau bei mir hängen geblieben ist:

Es ist einfach, die Freizügigkeit in der europäischen Union als großen Wert zu preisen, wenn man selbst aus einem Land stammt, wo niemand hinziehen will. Wieviele Leute sehnen sich danach, nach Bulgarien zu ziehen?

Mit anderen Worten: die Briten haben erlebt, dass direkt nach der Öffnung der Grenzen innerhalb Europas eine große Zahl Menschen von der Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, um grade auch nach Großbritannien zu kommen. Ich kann das verstehen — es ist das Land in der EU, das zugleich den Zugang zum wohl stärksten und attraktivsten globalen Kultur- und Sprachraum ermöglicht: der angelsächsischen Welt.

Was dann auch bedeutet hat, dass es mehr und mehr Gegenden in Großbritannien gab, in denen die Menschen sich damit abfinden mussten, dass plötzlich in ihren Schulen wachsende Zahlen von Kindern aufkreuzten, die erst einmal die Sprache nicht sprachen, oder dass es neue Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt durch engagierte, fleißige Polen gab, die halt jetzt auf Englisch ihr Glück „im Westen“ machen wollten.

Ich gebe das nicht so wieder, weil ich diese Gründe für die Ablehnung der EU richtig finde, oder unterstütze. Und ich weiß, dass die Herausforderung, fremde Menschen in die Gesellschaft einzugliedern, überall besteht, und dass es dem Geist einer freizügigen EU und des guten menschlichen Miteinanders widerspricht, das als unerträglich darzustellen. Aber ich hatte bis zu diesem Gespräch nie darüber nachgedacht, dass die Freizügigkeit in der EU tatsächlich nicht für alle das Gleiche bedeutet. Manche Länder strahlen mehr Attraktivität aus als andere, aus welchen Gründen auch immer. Und so nehmen die Menschen in ihnen ein Ungleichgewicht wahr, was dann wiederum ihre Haltung zur EU beeinflusst.

Ein Kommentar

  1. Ich habe bislang nicht einen einzigen Syrer kennengelernt, der Assad nicht voller Wut als Tyrannen und Menschenschlächter o.ä. bezeichnet hätte. Ohne die Meinung Deines Freundes in Abrede stellen zu wollen, ich kann mir vorstellen, dass seine Erlebnisse genau die waren, die er schildert, und demnach auch sein Denken so ist. Aber: Bei dem Bild, dass sich mir von Syrien darstellt, ist mir eines immer wieder aufgefallen. Die Menschen aus Damaskus und Aleppo haben, so scheint es, nicht so viel oder erst viel später die Konsequenzen von Assads Handeln zu spüren bekommen als jene in allen anderen Teilen des Landes. Ich stieß in Gesprächen oft auf völliges Unverständnis bei Menschen aus Homs, Quamishli, ja sogar der Millionenstadt Latakia, wenn sie mitbekamen, dass Leute aus Aleppo und Damaskus sich unter den Flüchtlingen in Deutschland befanden, zumindest anfänglich im Sommer 2015, weil „die es doch gut haben, da ist doch nichts, kein Krieg“. Heute hat sich die Lage in diesen Städten natürlich auch dramatisch verschlechtert, aber damals konnte man sicher hier und da zu dem Schluss kommen wie Dein Freund, dass Assad so schlecht nicht sein könne. Nur die meisten anderen Syrer sahen und sehen das nicht so, sie würden ihn lieber heute als morgen tot sehen.

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