Vergangene Woche habe ich hier von der Notwendigkeit eines konstruktiven Größenwahns geschrieben, inspiriert von einer Ansprache von Hanno Burmester bei der Eröffnung des Democracy Labs des Progressiven Zentrums. In den Kommentaren unter dem Blogpost entstand dann unter anderem eine sehr interessante Debatte mit „seinswandel“ – zu der Frage, inwieweit aus einer progressiven Sicht überhaupt Größenwahn möglich ist. „seinswandel“ schreibt:
Wir können die Welt vermessen, berechnen und beherrschen und dabei leitet uns die Vernunft, welche ein gutes Ergebnis für alle garantiert. Das ist das alte liberale Versprechen und das Versprechen der Moderne. Das ist aber nur ein Teil davon und blendet die ganze Gewalt und das Elend aus, wie du es ja hier u.a. mit der Kapitalismusserie nachvollzogen hast. Gerade die Geschichte des 20 Jh. ist voll mit größenwahnsinnigen sozial-politischen Projekten. Aus gutem Grund schrecken wir davor zurück.
Das ist absolut nachvollziehbar, aber mir wurde klar, dass wir hier von völlig unterschiedlichen „Größenordnungen des Größenwahns“ reden. Mir geht es natürlich nicht um neue Weltordnungen, mit denen wir radikal die gesamte Menschheit beglücken. Mir geht es darum, dass wir uns zunächst mal nicht mehr vor unlösbar geglaubten Problemen in Europa oder vor unserer Haustür verkriechen. Der Ansatz der Rechten besteht darin, ein demokratisch organisiertes und in der EU politisch stark vereinigtes Europa zerspalten und totalitärer machen zu wollen. Das ist ein ernsthaft beschissener Plan, aber es ist auch ein größenwahnsinniger Plan. Und sie scheinen damit in Auszügen Erfolg zu haben (natürlich unter anderem auch, weil Europa grade gut darin ist, sich selbst zu zerlegen). Dass wir uns letztlich auch Gedanken über unser Zusammenleben auf der ganzen Erde machen müssen, weil unsere Handlungen hier ihre Effekte auf dem ganzen Erdball nach sich ziehen — insbesondere ökologisch und sozial — ist allerdings ebenso klar.
Wir brauchen jetzt unseren Größenwahnsinn, der in die richtige Richtung geht: den Glauben daran, dass wir eine immer wieder desaströse Folgen erzeugende Finanzbranche, eine renditegetriebene Industrielobby, die ökologischen Wandel behindert, eine gescheiterte Flüchtlingspolitik nicht als gegeben hinnehmen, sondern als lösbare Aufgabe annehmen. Und dass wir Alternativen dazu entwickeln, die einen Blick in eine wünschenswerte Zukunft öffnen.
Die taz von heute schlägt nun noch einen zweiten Ausdruck vor, der manchem/r LeserIn ähnlich im Halse stecken bleiben mag wie der konstruktive Größenwahn — und zwar den progressiven Populismus. In einem Interview erklärt die US-Feministin Nancy Fraser, warum die Demokraten gegen Trump gescheitert sind, und sie erläutert, wie der nur vermeintliche Widerspruch zwischen einem Kampf für Minderheiten und einem Kampf für soziale Gerechtigkeit entstehen konnte: weil die Neoliberalen beginnend mit Bill Clinton progressive Politik für Emanzipation und Vielfalt verknüpft haben mit einer harten unsozialen Wirtschafts- und Sozialpolitik:
An die Stelle einer antihierarchischen, klassenbewussten und egalitären Auffassung von Emanzipation trat eine linksliberal-individualistische. Eine „Winner-takes-it-all“-Hierarchie wurde befördert, um einigen „besonders talentierten“ Frauen oder Lesben und Schwulen ihren Aufstieg zu ermöglichen. Gleichzeitig muss die Mehrheit ihr Leben im Keller verbringen.
Mit anderen Worten: indem die neoliberalen Kräfte — vorneweg übrigens das Silicon Valley — für Gay Rights oder Feminismus einstanden, gaben sie sich einen progressiven linken Anstrich, blieben zugleich aber höchst unsozial. Und das hat die abgehängte Arbeiterschaft im mittleren Westen den Demokraten einfach brutal übel genommen — verständlicherweise.
Fraser fordert daher einen progressiven Populismus — also eine Politik, die sich für eine breite Mehrheit öffnet und progressive Ideen nicht mit hartem Individualismus verknüpft, sondern nun den Kampf für Minderheitenrechte und den für soziale Gerechtigkeit ganz offensiv miteinander verbindet, zumal sie ja zusammen gehören. Man kann keine gerechte Gesellschaft haben, wenn man sie nur für manche Mitglieder von ihnen gerechter zu machen versucht. So öffnen sich progressive Positionen auch einer Arbeiterschaft und den Menschen, die sich bisher von der Politik der Demokraten ignoriert fühlen:
Wir müssen eine neue, linke Erzählung bieten. Eine ernsthaft egalitäre soziale Bewegung sollte sich mit der verlassenen Arbeiterklasse verbünden. Sie muss erklären, warum beides zusammengehört.
Auch wenn die beiden Begriffe, die in der Überschrift stehen, manchem progressiven Menschen nicht richtig „schmecken“ werden — ich bin überzeugt davon, dass wir heute beides dringend brauchen.
P.S.: Ja, das Beitragsbild ist ironisch gemeint. Überwiegend. Außerdem war gestern erster Mai. Also. 😉
» Der Ansatz der Rechten besteht darin, ein demokratisch organisiertes und in der EU politisch stark vereinigtes Europa zerspalten und totalitärer machen zu wollen.«
Schon in diesem Satz steckt der Widerspruch. Denn gäbe es »Demokratie«, gäbe es keine »Rechten«. Diese sind nur in einer »parlamentarischen Demokratie« möglich.
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Es dürfte dich wenig überraschen, dass ich auch gegenüber einem „progressiven Populismus“ ziemlich skeptisch bin. Das liegt zunächst daran, dass ich den Begriff „Populismus“ generell für wenig aussagekräftig halte. Was ist damit gemeint? Was war an Barnie Sanders populistisch, was ihn in welcher Hinsicht von einer anscheinend nicht-populistischen(?) Hillary Clinton unterscheiden würde? Wenn es bedeutet, dass auf komplizierte Probleme einfache Antworten geliefert werden, wie einige den Begriff verstehen, scheint mir das wenig attraktiv. Der real-existierende Linkspopulismus, wozu regelmäßig etwaz Hugo Chavez gezählt wird, erscheint mir ebenfalls nicht gerade als leuchtendes Vorbild.
Sicher brauchen wir eine neue Erzählung, die uns packt. Vielleicht eine linke Erzählung, vielleicht aber auch eine, die das Links-Rechts-Schema hinter sich lässt. Doch wie lässt sich diese Erzählung mit Inhalt füllen? Dann ist die Frage, ob sich diese neue Erzählung den Anstrich von einem letztlich narzisstisch konnotierten Größenwahn und einem Populismus geben will. Es ist ja kein Zufall, dass sich die Begriffe Größenwahn und Populismus paaren. Es geht um die Kombination eines Wahns von Größe, einer narzistischen Verliebtheit in ein Trugbild, gepaart mit einfachen Rezeptwissen á la Trump.
PS: Du hast übrigens das Fugen-s bei seinSwandel unterschlagen 😉
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S ist korrigiert! 😉
Natürlich ist mir das klar, deswegen habe ich ja auch die Verlinkung gemacht. Mir geht es darum, dass ich die beiden Begriffe neu aufladen will. Populismus nicht als „ich verspreche Dinge, die emotional wirken und eine große Menge Menschen mitreißen, nur um mir Macht zu sichern“, sondern Populismus als „ich bemühe mich darum, für die Mehrheit der Menschen bessere Lebensverhältnisse zu schaffen und das auch kommmunikativ ganz klar und deutlich zu machen“.
Und in welcher Weise ich Größenwahn anders verstehe als Du, habe ich ja im Text beschrieben.
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