Partei in der Zwickmühle: Bei der SPD konnte man heute Demokratie erleben.

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Vor einigen Wochen habe ich hier schon mal von der SPD geschwärmt, aus einem kleinen Winkel heraus, aus der Sicht der lokalen Politik in meiner Heimatstadt. Heute habe ich mich erneut darüber gefreut, wie in der SPD Politik entsteht — dieses Mal aber auf nationalem Niveau. Ich war von 11 Uhr bis 19 Uhr beim Bundesparteitag, weil ich wissen wollte, wie die Partei mit der aktuellen politischen Lage umgeht, die so schwierig ist wie lange nicht, grade für diese Partei.

Gegen Ende dieses langen Tages haben die Delegierten dafür gestimmt, dass der Vorstand die Freigabe erhält, mit der Union über sämtliche Möglichkeiten zu diskutieren, die derzeit offenstehen — einschließlich einer großen Koalition. Aber genau darüber wurde zuvor stundenlang intensiv debattiert. Die Jusos hatten eine Ergänzung zum Antrag eingebracht, der — sofern er angenommen worden wäre — präzisiert hätte, dass es zwar Diskussionen mit der Union geben kann, dass aber die Variante „GroKo“ explizit ausgeschlossen wird. Die vielen Delegierten waren intensiv bei der Sache, ich habe den ganzen Nachmittag lang immer wieder geguckt, wie gut gefüllt die Delegiertenplätze waren — die Leute nahmen die Sache wirklich ernst, waren engagiert, an Bord.

Zum Thema habe ich aus der Diskussion mitgenommen, dass es jeweils ein akut drängendes Schlüsselargument für sowie eines gegen die Variante GroKo gibt und zudem jeweils ein weniger akutes aber nicht weniger wichtiges: „Akut pro“ ist, dass es wohl nur mit der SPD gelingen wird, die aktuelle Situation mit Emmanuel Macron in der EU zu nutzen, um ein paar entscheidende Weichenstellungen hinzubekommen — und womöglich die Chance zu wahren, Europa gemeinsam mit Frankreich wieder zu stärken. Der Union allein traue ich das null zu, und das sahen viele Anwesende ähnlich. „Akut contra“ ist, dass ein erneuter Einzug der SPD in die Regierung dafür sorgen würde, dass die AfD die stärkste Oppositionspartei im Parlament würde (!) und damit eine Sichtbarkeit und eine Bedeutung für unser Land bekäme, die desaströse Folgen für uns alle haben könnte.

„Pro“ ist zudem, dass die SPD natürlich nur in einer Regierung die Chance hat, nochmal wieder politisch Weichen zu stellen. „Contra“ ist, dass viele Genossinnen und Genossen fürchten (und dazu gehöre ich auch), dass die Partei sich dann komplett der Selbstaufgabe anheim stellt und nicht in der Lage sein wird, sich — so wie dringend nötig — zu erneuern, während sie wieder unter Merkel irgendwie aushilfsweise mit an der Macht ist und den letzten Fetzen an Glaubwürdigkeit verliert. Zumal es der SPD in ihrer aktuellen Aufstellung in den letzten 12 Jahren ja auch nicht gelungen ist, nennenswert etwas gegen soziale Ungerechtigkeit zu erreichen, obwohl sie acht Jahre davon an der Regierung war. In dieser Zeit sind die Mieten enorm gestiegen. In dieser Zeit haben sich die Menschen in einer Art mittleren Völkerwanderung zur AfD aufgemacht.

Mein Fazit: Ich möchte nicht, dass die SPD wieder unter Merkel in eine Koalition mit der Union einzieht. Und ich fand die Redebeiträge von Juso-Chef Kevin Kühnert wirklich super. Aber das Projekt Europa allein der Union zu überlassen (womöglich in einer Minderheitsregierung) gefällt mir leider auch ganz und gar nicht.

Eine ziemlich unangenehme Zwickmühle.

Entscheidend ist jetzt wohl, was bei den Sondierungen rauskommt. Und dann wird es erstmal wieder einen Parteitag geben, wo wieder miteinander gestritten wird.

Die Debatte hat mir wirklich gut gefallen, und zwar nicht allein, weil es um die Einschätzungen der Genossinnen und Genossen zur großen Koalition ging. Vielmehr wurde deutlich, wie ernst es die Anwesenden nun mit der Erneuerung der Partei meinen, bis hinauf in die Spitze der SPD. Es wurde deutlich, wie dringend in der Partei auf eine Aufarbeitung der Fehler aus der Agenda 2010 gedrängt wird. Michael Müller beispielsweise sagte, dass sie damals vielleicht die richtige Antwort gewesen sei, aber:

Die Agenda 2010 ist heute nicht mehr passend zu unserer Zeit.

Es wurde über Europa, über Wohnungsbau, über Gerechtigkeit und ohne Scheu auch über jedes andere Thema, beispielsweise über die neoliberalen Sünden der SPD, geredet. (Auch wenn ich mir recht zügig ein paar Wortverbote gewünscht hätte — ich hatte mich ziemlich schnell übergehört an den Ausdrucken „klare Kante“ und „ohne Automatismus“. Letzterer wurde von jeder/m zweiten RednerIn strapaziert, um darauf hinzuweisen, dass Sondierungen mit der Union auf keinen Fall notwendigerweise zur GroKo führen würden.)

Und darüber hinaus fand ich die Auftaktrede von Martin Schulz wirklich gut, weil ein paar große Sachen darin vorkamen — und er bekam dafür Standing Ovations von den Delegierten. Er gab sich kämpferisch in Anbetracht des globalen Plattformkapitalismus:

Wir wollen keine App-gesteuerte Dienstbotengesellschaft!

Er kritisierte heftig die weltweiten Steueroasen, und vor allem die in der EU. Er beschrieb Europa unzweideutig als Antwort auf die globalen Wirtschaft- und Sozialprobleme der Welt — und fand damit zurück zu seiner eigentlichen Stärke als passionierter Europapolitiker. Und er sagte Sachen wie:

Ja, es wird in Zukunft auch wieder um Verteilungsgerechtigkeit gehen müssen.

Vor allem aber, und damit rannte er bei mir offene Türen ein, sprach er so nachdrücklich wie nie über den Klimawandel, mit einem für die SPD zentralen Satz zu diesem Thema:

Die Wahrheit ist: Wir wollen die Klimaziele erreichen. Und die Wahrheit ist auch: Das bedeutet das Ende der Kohleverstromung.

Nicht auf Bewahrung alter Strukturen käme es an, sondern darauf, denen Perspektiven zu bieten, die unter dem Strukturwandel leiden müssen. Und dazu kam eine unzweideutige Haltung zum Thema Familiennachzug beim Asyl:

Und ich möchte aufgrund der aktuellen Debatte hinzufügen: Familie ist für die Integration auch wichtig!

Sowie:

Das Recht auf Schutz vor Krieg und Verfolgung, das kennt keine Obergrenze!

Die Lage ist wirklich schwierig. Aber heute hat sich die SPD in dieser Hinsicht keine Blöße gegeben. Und mich hat es gefreut, dabei gewesen zu sein. Morgen gehe ich wieder hin, dann hoffe ich, dass einige der SPDPlusPlus-Anliegen zur Parteiweiterentwicklung ein paar gute Ergebnisse erzielen.

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