Vorletzte Woche hatte ich hier auf dem Blog über einen sehr inspirierenden ZEIT-Artikel zum Thema Bürgerversammlung geschrieben, und das dann später noch mit weiteren Beobachtungen ergänzt. Mein Eindruck ist seither, dass der ZEIT-Text eine Menge Leute begeistert, und dass dieses Konzept politischer Willensbildung viele Menschen inspiriert. Heute hatte ich die Gelegenheit, ein paar Wikipedia-Quellen zu dem Thema nachzulesen. Hier in Kurzform die wichtigsten Erkenntnisse.
Dieser Begriff ist eine Art Dachbegriff, unter dem für die Demokratie eingefordert wird, die Willensbildung öffentlich und mit viel Beteiligung der Bevölkerung durchzuführen. Ich finde dabei vor allem die begriffliche Abgrenzung von der partizipativen Demokratie interessant und mag am Begriff „deliberativ“, dass er das (gemeinsame) Nachdenken in den Vordergrund stellt. Das Problem bei Volksentscheiden ist ja, dass dabei das Nachdenken (teilweise) durch mediale Kampagnen sozusagen ersetzt wird, wodurch die bekannten Probleme entstehen. Wenn man anerkennt, dass die Herausforderung darin besteht, dass möglichst viele Menschen in einem gemeinsamen Nachdenkprozess — anstelle eines gemeinsamen Wahlkampfprozesses — zu einer Entscheidung kommen sollen, legt man den Fokus an die richtige Stelle. Entsprechend heißt es im Text:
Kernidee der deliberativen Demokratie ist, dass durch Austausch von Argumenten in einem (machtfreien) Diskurs Verständigung oder Konsens erzielt werden können und so gefundene Lösungen den Ansprüchen der Vernunft in sachlicher und moralischer Hinsicht gerecht werden. So bezeichnet es Carole Pateman als zentrale Forderung der Vertreter deliberativer Demokratietheorie, dass Einzelne immer bereit sein sollten, ihre moralischen und politischen Argumente und Forderungen mit Gründen zu verteidigen und über diese Gründe mit anderen zu beraten. Gelingt es, dem besseren Argument Geltung zu verschaffen, so hat entsprechend der Argumentation der deliberativen Demokratietheorie die getroffene Entscheidung eine höhere Legitimität als eine durch Wahl oder Plebiszit allein herbeigeführte Entscheidung.
Was für mich spontan erstmal nach terroristischer Gruppierung klingt, ist in Wahrheit ein bereits praktizierter Ansatz der Bürgerversammlung. Die Idee ist ziemlich genau das, was im ZEIT-Artikel aus Irland beschrieben wird, nur in etwas kleinerer Form:
Eine Planungszelle ist eine Gruppe von ca. 25 im Zufallsverfahren ausgewählten Personen (ab 16 Jahren), die für ca. eine Woche von ihren arbeitsalltäglichen Verpflichtungen freigestellt werden, um in Gruppen Lösungsvorschläge für ein vorgegebenes Planungsproblem zu erarbeiten. Die Teilnehmer verpflichten sich zur Neutralität.
Überrascht hat mich, dass in den vergangenen Jahren offenbar immer wieder Projekte dieser Art auf verschiedenen Ebenen durchgeführt wurden, beispielsweise in Hannover zur Verbesserung des öffentlichen Personennahverkehrs, in Rheinland-Pfalz zum Miteinander der Generationen in einer alternden Bevölkerung, oder aber auch ein nationales Projekt in Bonn zur künftigen Energiepolitik.
Es gibt auch einige Informationen dazu, wie solche Planungszellen organisiert wurden:
Durch die Zufallsauswahl wird eine breit gestreute Teilnehmerschaft erreicht. Frauen und Männer sind entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil vertreten, ebenso die unterschiedlichen Altersgruppen. Angehörigen schwer abkömmlicher Berufsgruppen wird die Teilnahme durch berufliche Freistellung erleichtert, für Personen mit Pflegeverantwortung wird nach einer Vertretung gesucht. In Fällen, in denen die Teilnahme z.B. wegen Behinderung für die ausgewählte Person nicht möglich war, wurde sie von einem Helfer oder einer Helferin unterstützt. Bei sprachlichen Problemen ausländischer Teilnehmender halfen bereits besser deutsch sprechende Familienangehörige als Übersetzer.
Die Schlüsselerkenntnis für mich war hier, dass ausgeloste Bürgerversammlungen in Deutschland alles andere als Neuland sind, zumal es auch noch einen weiteren Begriff gibt, unter dem derartige Projekte organisiert werden:
Auch hier handelt es sich um 20 bis 25 zufällig ausgewählte Mitglieder einer Bevölkerung, die mithelfen sollen, bei schwierigen Fragen Entscheidungshilfen für die Politik zu erarbeiten. Letztlich gibt — jedenfalls nach den Wikipedia-Texten zu urteilen — keinen große Unterschied zwischen diesem Konzept und der obenstehenden Planungszelle. Dieser Text gibt aber ein paar mehr technische Anregungen dazu, wie sich derartige Versammlungen und Willensbildungsprozesse organisieren lassen, und auch die Nutzung von Online-Tools wird erwähnt. Der Text stellt zudem den Gedanken vor, dass man auch größere Projekte mit 1.000 Teilnehmern mittels Techniken der Großgruppenmoderation organisieren könnte.
Der ausführlichste Text zum Verfahren auf der Wikipedia scheint der Demarchie-Text zu sein, den ich schon in meine letzte Linksammlung aufgenommen hatte. Interessant ist hier — neben den konzeptionellen Gedanken –, dass es wiederum eine Reihe von praktischen Beispielen für das Verfahren gibt: zur Überarbeitung des Wahlrechts in British Columbia (Kanada), zum Finanzetat in einer Stadt in China (!), oder eine Bürgerjury zum Getränkepfand in Australien:
Im Jahre 2000 beauftragte der Umweltminister des australischen Staates New South Wales das „Institute of Sustainable Futures“ (ISF) in Sydney mit einer Studie zur Gesetzgebung für ein Pfand auf Getränkebehälter. In Zusammenhang mit dieser Aufgabe stellte das Institut per Zufallsauswahl eine Bürgerjury zusammen. Diese sollte die verschiedenen Möglichkeiten für ein Kreislaufsystem unter Berücksichtigung der Akzeptanz der Beteiligten gegeneinander abwägen. Die Jury ließ sich weder von der Industrie noch von Umweltverbänden beeinflussen. Die Teilnehmer zeigten, dass sie das Interesse der Allgemeinheit über ihr persönliches stellten.
Dazu listet der Text eine Reihe von Modellen und Anwendungsbeispielen. Gedanken dazu, das für ganz Deutschland zu machen, gibt es offenbar auch schon. So zum Beispiel in einem Buch aus dem Jahr 2007, mit ziemlich konkreten Vorschlägen für die derartige Zusammenstellung eines Gesamtparlaments:
Der Berliner Publizist Florian Felix Weyh regt 2007 in seinem Buch „Die letzte Wahl“ die Auswahl der Abgeordneten aus der Gesamtbevölkerung per Los an, was ein absolut repräsentatives Parlament zustande bringe. In die Verlosung der Mandate können die Medien nicht eingreifen. Die 600 Zufallsdelegierten könnten sich darüber hinaus unbeeinflusst einen Eindruck von den Bewerbern um Regierungsämter machen. Nach seinem Vorschlag sind in einem Verlosungscomputer alle Deutschen gespeichert, die den Kriterien des unabhängigen Wahlkomitees genügen, d. h. rund 62 Millionen Namen, aus denen 600 Abgeordnete gezogen werden. Die individuelle Gewinnchance falle mit 1:103.333 besser aus als bei jeder Lotterie. Wie beim Schöffenamt bestehe die Pflicht, das Mandat anzunehmen und nur sehr eng gefasste Ausnahmekriterien erlauben eine Ablehnung.
Ein interessanter Nachteil eines ausgelosten Parlaments finder sich auch im Text: dass nämlich der Bürokratieapparat an Macht gewinnt, weil er durch mehr Kontinuität besser bescheid wüsste und besser vernetzt wäre als die ausgelosten Abgeordneten.
Zusammenfassend
Ich finde erstaunlich, wie viele Gedanken und Ideen es zu diesem Konzept schon gibt, und wie wenig das in einer breiten Öffentlichkeit als Antwort auf Demokratiemüdigkeit und Vertrauensverlust in die Institutionen diskutiert wird. Da sollte mehr passieren, denke ich. Ich werde weiter dazu lesen.
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