Gastbeitrag: Sind „Links & Rechts“ am Ende? Oder: Wie schaffen wir einen friedlichen Kategorien-Wechsel?

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Am 10. Dezember 2016 hat Martin Oetting hier auf seinem Blog einen Artikel veröffentlicht, in dem er sich Gedanken darüber macht, welche Annahmen über die Menschen und über die Welt unsere politische Landschaft von „Links“ und „Rechts“ bestimmen. Ich habe darauf – zunächst flapsig, dann etwas durchdachter – auf Facebook reagiert, und nach einigem Gedanken-Ping-Pong hat Martin mich eingeladen, zu diesem Thema einen Gastbeitrag für „Kaffee & Kapital“ zu schreiben. Dieser Einladung komme ich sehr gerne nach.

Anja Hartmann (Twitter)

Zur Einordnung meiner Gedanken: Als ausgebildete Historikerin und als jemand, die beruflich ständig mit Veränderungsprozessen in verschiedensten Organisationen zu tun hat, bin ich überzeugt davon, dass eine der größten Herausforderungen unser Zeit darin besteht, unsere gesellschaftlichen und politischen Systeme und Institutionen so weiterzuentwickeln, dass sie den globalen Anforderungen unserer Zeit gerecht werden. Faktisch nutzen wir im öffentlichen Raum fast unverändert die Formen von Meinungsbildung und Entscheidungsfindung, die vor rund 200 Jahren entstanden sind, insbesondere das Organisationsmuster souveräner Nationalstaaten (mit allen dazugehörigen inner- und zwischenstaatlichen Ergänzungen von Parlamenten und Presse bis zu internationalen Organisationen). Die wichtigsten Fragen, die uns heute beschäftigen, machen aber an den nationalen Grenzen nicht halt: Digitalisierung, Klimawandel, Migration oder globale Produktions- und Lieferketten sind per definitionem nicht durch nationale Ordnungsrahmen begrenzt oder begrenzbar. Unser Versuch, diese Fragen des 21. Jahrhunderts mit den Mitteln des 19. Jahrhunderts zu lösen, ist in etwa so vielversprechend wie die Idee, den weltweiten Textilbedarf von heute mit den Webstühlen von Edmund Cartwright oder Joseph-Maria Jacquard decken zu wollen.

Wenn die Herausforderung also darin besteht, unsere gesellschaftlichen und politischen Systeme und Institutionen so umzubauen (oder: neu aufzubauen), dass sie den Ansprüchen der Menschen in unserer globalen Zeitläuften gerecht werden, dann ist die Frage danach, wie Menschen „eigentlich“ (heute) sind, selbstverständlich zentral. Martin ist dieser Frage mit Blick auf die klassischen politischen Positionen von „ „Links“ und „Rechts“ in seinem oben erwähnten Blogbeitrag nachgegangen. Ich möchte seine Überlegungen in drei Richtungen ergänzen, nämlich durch Gedanken (1) zum Nutzen und Schaden von Kategorien in der politischen Debatte, (2) zu den Kategorien, die „Links“ und „Rechts“ ausmachen, und (3) zur Neuordnung der Kategorien im 21. Jahrhundert. Um die Pointe vorweg zu nehmen: Ich werde dabei die Kernthese entwickeln, dass wir gerade einen grundlegenden politischen Kategorien-Wechsel erleben, der die geschilderte Herausforderung des Umbaus des politischen Landschaft noch schwieriger macht, weil die bisher gewohnten Koordinaten ins Rutschen geraten.

(1) Zum Nutzen und Schaden von Kategorien
Jede und jeder von uns nutzt ununterbrochen Kategorien, um die Welt um uns herum und unser eigenes Leben darin navigierbar zu machen. Wir sind Links- oder Rechtshänder, mögen die Berge oder das Meer, nutzen Microsoft- oder Apple-Produkte und stehen früh oder spät auf. Viele solcher Kategorien sind gesellschaftlich und politisch (zum Glück) irrelevant, in ihrem jeweilige Kontext aber nützlich, weil sie z.B. spezifische Produkte (Linkshänder-Scheren), Service-Angebote (Kite-Surfing-Kurse), Netzwerke (Internet-Foren) oder Lebens- und Arbeitsentwürfe (Spätis und Nachtschichten) ermöglichen, von denen letztendlich viele irgendwie profitieren.

Auch im politischen Raum hat es immer schon Kategorien gegeben. Anders als die gerade zitierten, sind politische Kategorien allerdings oft gleichzeitig Ausdruck von Machtverhältnissen gewesen: „Freie“ und „Sklaven“, „Herren“ und „Diener“, „Adel“ und „Volk“, „Kapitalisten“ und „Arbeiter“, „Herrenrasse“ und „Untermenschen“. Im Gegensatz zu diesen politischen Kategorien von „besser“ und „schlechter“ ist eine wichtige Errungenschaft der westlichen Demokratie in der Ausprägung, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in Europa und in Nordamerika entstand, dass sie neue Kategorien von „Links“ und „Rechts“ (ursprünglich bekanntlich abgeleitet aus der Sitzordnung in der Französischen Nationalversammlung von 1789) entwickelte, die bezüglich ihres gesellschaftlichen und politischen Status prinzipiell gleichberechtigt waren. Anders als die vorher aufgeführten machtpolitischen Kategorien, wurden diese neuen Kategorien zu Hilfsmitteln, um politische Positionen chiffreartig zusammenzufassen, ohne damit automatisch Über- oder Unterlegenheit zum Ausdruck zu bringen. Sie sind aufgrund dieser inhärenten Gleichberechtigung vom Grundsatz her besonders gut geeignet, um einen gewaltfreien, kritisch-konstruktiven Diskurs in der Öffentlichkeit und in den politischen Gremien zu ermöglichen – sofern es Mechanismen gibt, die den Austausch von Argumenten und die Entscheidungsfindung im Konfliktfall zuverlässig sicherstellen.

Im nächsten Abschnitt werde ich die Frage aufgreifen, was die Kategorien von „Links“ und „Rechts“ ausmacht. Vorher möchte ich allerdings noch anmerken, dass ich – ganz unabhängig von den konkreten Kategorien, um die es geht – befürchte, dass wir uns gerade in einer Phase befinden, in der uns der konstruktive Umgang mit Kategorien zunehmend schwer fällt. Warum? Ich beobachte – auch unabhängig vom politischen Diskurs – eine zunehmende Tendenz der vorschnellen Einordnung von Menschen in Kategorien, verbunden mit einer Abschottung gegenüber denen, die (tatsächlich oder angenommen) in einer anderen Kategorie „stecken“ als man selbst. Ich fürchte, dass hierfür zum einen der mittlerweile allgegenwärtige algorithmische Kurzschluss verantwortlich ist („Menschen, die diese Kaffeemaschine gekauft haben, haben auch Bücher von Thilo Sarrazin gekauft“, „Freunde, die diesen Song mochten, waren auch bei Vorträgen von Jutta Ditfurth“). Zum anderen scheint es uns zunehmend (zu) leicht zu fallen, Menschen mit griffigen Labeln abzustempeln („Nazi!“, „Volksverräter!“), statt Positionen inhaltlich zu verstehen und zu beschreiben. Und zum dritten machen die Mechanismen gerade der sozialen Medien es uns (zu) einfach, uns unangenehme Meinungen auszublenden („Blocken!“) und uns in unseren eigenen Filterblasen und Echokammern einzuigeln. Egal, welche Kategorien den politischen Raum jetzt und in Zukunft bestimmen: Wenn wir nicht auch Mittel und Wege haben, den Austausch zwischen Menschen mit verschiedenen Positionen zu fordern und zu fördern, ist jedes Kategoriensystem zum Scheitern (oder mindestens zur Nutzlosigkeit) verurteilt.

(2) Zu den Kategorien, die „Links“ und „Rechts“ ausmachen
Angenommen, das Verständnis der Kategorien von „Links“ und „Rechts“ ist nach wie vor wichtig für unseren politischen Diskurs (und sei es auch nur als Referenz für die historische Perspektive): Was genau macht „Links“ und „Rechts“ aus?

Martin hat in seinem Beitrag zwei Dimensionen unterschieden, nämlich einerseits den Gegensatz zwischen: „Die Dinge hinnehmen vs. die Dinge verbessern wollen“, andererseits den Gegensatz zwischen: „Intrinsische Motivation vs. Motivation allein durch Geld“. „Links“ beschreibt er dann als die Position, die (grob verallgemeinert) davon ausgeht, dass man die Dinge verbessern kann und dass Menschen intrinsisch zur Aktivität motiviert sind. „Rechts“ ist dann im Gegensatz dazu die Position, die annimmt, dass man die Dinge im wesentliche hinnehmen muss und dass Menschen durch Geld zu Leistung bewegt werden müssen.

Ich halte die erste Dimension („Die Dinge hinnehmen vs. die Dinge verbessern wollen“) für hilfreich und möchte hierzu eine Modifikation vorschlagen. Die zweite Dimension dagegen ist m.E. in dieser Gegenüberstellung nicht robust. Stattdessen möchte ich eine andere Achse ins Spiel bringen, die sich an den Überlegungen von Jonathan Haidt („The Righteous Mind“) orientiert und meiner Einschätzung nach besser zur Einordnung von „Links“ und „Rechts“ geeignet ist.

Erstens: Die erste Dimension reflektiert im Grunde den klassischen Gegensatz zwischen konservativ und progressiv, der in allerlei Spielarten seit der Antike in politischen Diskussionen präsent war (z.B. in „Optimaten“ und „Popularen“ im Rom des letzten vorchristlichen Jahrhunderts). In der Tat gibt es nicht nur in der politischen, sondern praktisch in jeder Diskussion eine Position, die eher darauf gerichtet ist, dass sich nichts (oder wenig) ändert, und eine, die etwas verändern möchte – das ist auch in Unternehmen („Umstrukturieren? Nicht umstrukturieren?“) oder Familien („Kinder? Keine Kinder?“) nicht anders. Im politischen Umfeld ist allerdings zu beobachten, dass auch Vertreter eher konservativer Positionen immer wieder Veränderung fordern oder anregen, insbesondere mit dem Hinweis darauf, dass bestimmte Entwicklungen rückgängig gemacht werden sollten. Mein Vorschlag zur Benennung des Gegensatzes wäre daher eher ein: „Früher war alles besser“ vs. „In Zukunft wird alles besser“, so dass der jeweilige Fluchtpunkt (vergangenes vs. kommendes goldenes Zeitalter) klarer wird. „Rechts“ wäre dann eine Position, die in ihren Plänen Bezug auf den Glanz vergangener Epochen nimmt; „Links“ im Gegensatz dazu eine Position, die eine bisher noch nicht dagewesene Zukunftsvision als Ziel ihrer Pläne beschreibt.

Zweitens: Die zweite Dimension halte ich in der von Martin vorgeschlagenen Form für problematisch. Zum einen, weil sie logisch nicht unabhängig von der ursprünglichen Definition der ersten Dimension ist, denn die Frage, „was Menschen dazu motiviert, etwas zu leisten, etwas verändern zu wollen […]“ ist ja vor allem (wenn nicht: nur) dann relevant, wenn ich von der Annahme ausgehe, dass Veränderung sinnvoll oder notwendig ist. Dieses Problem würde durch die von mir vorgeschlagene Umformulierung der ersten Dimension (s.o.) quasi nebenbei behoben werden, da in dieser Neuformulierung Veränderung an sich für „Links“ und „Rechts“ gleichermaßen relevant ist. Selbst nach Auflösung der logischen Abhängigkeit halte ich den Gegensatz aber nicht für hilfreich, und zwar aus dem folgenden Grund: Martin Oettings Erläuterung macht klar, dass er den Gegensatz eigentlich versteht als: „Man muss Menschen Geld geben, damit sie etwas tun“ („Rechts“) vs.: „Man muss Menschen Freiheit (und Sicherheit) geben, damit sie etwas tun“ („Links“). Sozialleistungen (auch materielle) sind dabei in seiner Interpretation kein „Geld“ sondern eine Voraussetzung für „Freiheit“ (und damit eher „Links“). Dieser Gegensatz ist m.E. in sich ein Kategorienfehler, weil Geld (wie Martin durch die von ihm angeführten Beispiele selbst belegt) immer nur ein Mittel zum Zweck ist. Hätte „Geld“ denselben Stellenwert wie „Freiheit“, warum sollte dann eine konservative Position gegen (materielle) Sozialleistungen sein, die doch in dieser Logik dann gerade eine Motivation zum Handeln sein müssten?

Drittens: Statt an der Neudefinition der zweiten Dimension herumzufeilen, schlage ich vor, diese durch die Logik zu ersetzen, die von Jonathan Haidt in seinen Arbeiten zu konservativer und liberaler Haltung (vorwiegend in den USA) entwickelt wurde und die er in seinem Buch „The Righteous Mind“ (2012) umfassend dargestellt hat. Im Kern ergeben Haidts (empirische) Forschungen, dass Menschen grundsätzlich sechs moralischen Triebkräften folgen, nämlich Fürsorge, Freiheit, Gerechtigkeit, Loyalität/Zugehörigkeit, Autorität und Heiligkeit (meine Übersetzung der Begriffe aus dem englischen Original: Care, Liberty, Fairness, Loyalty, Authority, Sanctity). Haidts Analyse der Haltungen von Liberalen vs. Konservativen ergibt weiterhin, dass Liberale die Aspekte von Fürsorge, Freiheit und Gerechtigkeit stärker betonen, während Konservative die Aspekte von Loyalität/Zugehörigkeit, Autorität und Heiligkeit deutlich stärker hervorheben. Versucht man, diese Aspekte entlang einer Achse zu ordnen, so scheint mir der entscheidende Aspekt zu sein, dass „Linke“ Menschen grundsätzlich als freie und gleiche Individuen sehen. Die Aufgabe von Staat und Gesellschaft ist damit, für jedes Individuum die Voraussetzungen zur Entfaltung seiner Möglichkeiten zu schaffen. „Rechte“ dagegen sehen Menschen grundsätzlich eher als Mitglieder von Gruppen (Familie, Berufsstand, Nation) . Für sie besteht die Aufgabe von Staat und Gesellschaft deshalb im Austarieren der Interessen zwischen den Gruppen. Folgt man dieser Argumentation, so lässt sich als zweite Achse der Gegensatz zwischen: „Menschen sind freie und gleiche Individuen und streben grundsätzlich nach Freiheit und Selbstverwirklichung“ vs.: „Menschen sind Gruppenwesen und streben grundsätzlich nach Zugehörigkeit und Ordnung “ formulieren, wobei „Links“ der ersten und „Rechts“ der zweiten Position zugeordnet wäre.

Zwei Randbemerkungen hierzu: Der Unterschied in der Perspektive darauf, „wie Menschen sind“ – nämlich eher Individuen oder eher Gruppenwesen – bedeutet natürlich nicht, dass „Linke“ niemals in Gruppen oder für Gruppen agieren oder das „Rechte“ niemals an die Werte der einzelnen appellieren. Die Kategorie soll beschreiben, wie der Mensch „an sich“ gesehen wird, nicht mit welchen Mitteln praktische Politik gemacht wird. Und: Es gibt sicherlich über die grundsätzliche Ähnlichkeit der Dimensionen hinaus wichtige Unterschiede zwischen den liberalen und konservativen Positionen in der amerikanischen und den linken und rechten Positionen in der europäischen Politik-Landschaft. Diese weiter zu ergründen, ist ein wichtiger nächster Denkschritt – auch und gerade vor dem Hintergrund der starken Präsenz des amerikanischen Politik-Diskurses in Europa spätestens seit der letzten Präsidentenwahl. Hier und heute soll aber die grobe Zuordnung erst einmal genügen.

Schließlich: Ein charmanter Nebeneffekt einer solchen Neuordnung der Matrix ist in meinen Augen auch, dass zumindest eins der bisher nicht ausgefüllten Felder ebenfalls besetzt werden kann, nämlich die Überschneidung von: „In Zukunft wird alles besser“ mit: „Menschen streben grundsätzlich nach Zugehörigkeit und Ordnung“ – dies wäre dann das klassische Feld aller Erlösungsreligionen, die Gruppenzusammenhalt im Hier und Jetzt mit dem Versprechen einer zukünftigen Erlösung oder Erleuchtung verbinden.

Meine Skizze der angepassten Matrix ist hier:

17-02-09_anja_schema_linksrechts

(3) Zur Neuordnung der Kategorien im 21. Jahrhundert
Wie oben ausgeführt, sind Kategorien kein Selbstzweck, sondern dienen der Herstellung von Navigierbarkeit unserer Welt, bieten also – im Fall von politischen Kategorien – Koordinaten in der politischen und gesellschaftlichen Landschaft, an denen wir uns orientieren können. Inwieweit, möchte ich deshalb abschließend fragen, helfen uns die Kategorien von „Rechts“ und „Links“ heute noch, das zu verstehen und zu ordnen, was um uns herum geschieht? Meine Antwort habe ich anfangs bereits angerissen: Ich glaube, dass wir gerade einen grundlegenden Kategorien-Wechsel erleben, in dem die Kategorien von „Links“ und „Rechts“ eben gerade nicht mehr als Navigationshilfen funktionieren. Im Zusammentreffen mit der eingangs geschilderten Herausforderung der Neuordnung unserer gesellschaftlichen und politischen Systeme und Institutionen bedeutet dies eine zusätzliche Komplikation, durch die eine Lösungsfindung noch schwieriger und (zumindest sofern man an eine gewisse Orientierungsfunktion historischer Abläufe glaubt) vermutlich riskanter wird.

Aber der Reihe nach: Ich komme mehr und mehr zu dem Schluss, dass die Kategorien von „Links“ und „Rechts“ wie oben seziert heute nicht mehr so greifen, wie sie das (mit Unterbrechungen) für rund 200 Jahre getan haben. Hierfür sehe ich zwei wichtige Indizien.

Erstens: Insbesondere die neu erstarkenden politischen Positionen, die gerne als eher „Rechts“ beschrieben werden (und sich teilweise auch selbst und selbstbewusst so beschreiben), greifen bei der Wahl ihrer Argumente und Begrifflichkeiten auf alle Felder der oben gezeichneten Matrix zu. Zur Illustration: Sowohl Donald Trump in seiner Rede zum Amtsantritt am 20. Januar 2017 als auch Bernd Höcke in seiner Rede in Dresden am 17. Januar 2017 haben ebenso eine „vision“ oder „Visionen“ wie ein „great again“ oder eine „großartige Vergangenheit“ beschworen, und beide appellierten ebenso an die Gemeinsamkeit der jeweils Angesprochenen („total allegiance to the United States“, „uns Patrioten“) wie an den Ehrgeiz der Individuen („your dreams“, „ganzheitliche Persönlichkeiten“). Gleichzeitig gehören die Vorwürfe eines zu engen Gruppendenkens („identity politics“, „Eliten“) sowie des Unwillens zur Veränderung – beides (passend zu den oben aufgespannten Dimensionen) traditionell eher Kritik der „Linken“ an der „Rechten“ – heute zum Standardrepertoire der Vorwürfe der scheinbar „Rechten“ gegen die scheinbar „Linke“. Die Zuordnung von inhaltlichen Positionen zu „Links“ und „Rechts“ wird so faktisch unterlaufen und damit als Erklärungshilfe ausgehebelt.

Zweitens: Auf allen Seiten scheint sich eine Haltung auszubreiten, die mit den Kategorien automatisch ein „besser“ und „schlechter“ assoziiert – abweichend also von der ursprünglichen Annahme einer politischen Augenhöhe zwischen „Links“ und „Rechts“ mit allen ihren Vorteilen für das Funktionieren der Demokratie. Dies gilt leider zur Zeit für sehr viele Akteure im politischen Raum: „Linke“, die darüber nachdenken, wie Anhänger und Wähler der neuen scheinbar „Rechten“ von ihrem Irrglauben abgebracht werden können, stehen in dieser Haltung den scheinbar „Rechten“ nicht nach, die demokratisch gewählte Politiker als „erbärmliche Apparatschiks“ oder als verantwortlich für „carnage“ verunglimpfen. Ist das Gefälle zwischen verschiedenen politischen Positionen aber erst einmal im Sinne eines „besser“ und „schlechter“ etabliert, ist eine konstrukive Lösung von Konflikten durch Systeme und Institutionen, die Gleichwertigkeit unterstellen, prinzipiell in Frage gestellt.

Dazu kommt: Ein gemeinsamer Nenner der neuen politischen Positionen scheint zu sein, dass sie die Ansicht vertreten, dass Wahrheit und Angemessenheit von Verhalten im politischen Raum grundsätzlich durch das definiert werden, was die Vertreter der Position für wahr oder angemessen halten – nicht durch (wie auch immer geartete) gemeinsame, objektivierbare, messbare oder anderweitig nachvollziehbare Referenzpunkte. In dieser Logik ist (um ein aktuelles Beispiel aufzugreifen) eine Menschenmenge, die mir groß vorkommt und von der ich mir erhofft habe, dass sie groß ist, selbstverständlich groß. Diese Haltung steht in ihrer radikalen emotionalen Subjektivität außerhalb des herkömmlichen politischen Systems, das vom Grundsatz her auf rationalen Austausch wechselseitig überprüfbarer Argumente ausgelegt ist. Es könnte deshalb – aber hier hypothetisiere ich – sein, dass eine neue  Dimension der politischen Ordnung entlang der Achse: „Es gibt objektive/objektivierbare Maßstäbe für (politisches) Handeln“ vs.: „Der Maßstab für (politisches) Handeln ist meine subjektive Einschätzung“ verlaufen wird. Für den Umgang mit einem solchen Gegensatzpaar haben wir bis dato noch keine Mechanismen der friedlichen Konfliktlösung entwickelt – ganz zu schweigen von den gesellschaftlichen Systemen und Institutionen, in denen Vertreter der Pole eines solchen Gegensatzpaars tatsächlich auf Augenhöhe koexistieren und kooperieren könnten.

Abschließend noch eine historische Reflexion: Der Zerfall politischer Kategorien ist natürlich kein neues oder einmaliges Phänomen. Gerade die europäische Geschichte ist reich an Beispielen für ähnliche Vorgänge – und an (mehr oder weniger inspirierenden) Illustrationen für das, was geschieht, wenn dieser Zerfall fortschreitet und um sich greift. Abgesehen von dem unglücklichen Umstand, dass die meisten dieser Beispiele (oft langandauernde und grausame) Phasen von Kriegen oder Bürgerkriegen mit sich brachten, sehe ich zwei prinzipielle Lösungswege, die in der Vergangenheit erfolgreich – und oft parallel – beschritten worden sind. Eine Möglichkeit der Konfliktlösung bestand darin, eine Gruppe von Kategorien einer anderen weitgehend unterzuordnen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Kategorie „Konfession“: Nach dem Dreißigjährigen Krieg, in dem Konfession sowohl innerhalb als auch zwischen bestehenden Gemeinwesen erheblich zur Verlängerung und Vertiefung der gewaltsamen Auseinandersetzungen beigetragen hatte, ordnete das „cuius regio, eius religio“ des Westfälischen Friedens „Konfession“ klar der (neuen) Kategorie der souveränen Staatlichkeit unter: Die Staatszugehörigkeit definierte fortan bis auf weiteres auch die Konfessionszugehörigkeit. Ein weiteres Beispiel: Knapp 200 Jahre später wiederholte sich mit der Ausdifferenzierung der Kategorie der „Privatheit“ ein ähnlicher Vorgang: Alles Private (darunter i.Ü. auch die Kategorie „Religion“) wurde – in Bezug auf seine Rolle im politischen Raum – dem Öffentlichen untergeordnet. Der Bürger hatte damit als Bürger legitimes Interesse und Recht auf Beteiligung nur an öffentlichen Themen – alles andere (ob konfliktär oder nicht) wurde seine Privatsache. Eine andere, meist ergänzend genutzte, Möglichkeit der Konfliktlösung bestand in der Etablierung neuer Regeln der gleichberechtigten Auseinandersetzung zwischen den Vertretern verschiedener Positionen. Noch einmal am Beispiel des Dreißigjährigen Kriegs: Die Neuordnung des Westfälischen Friedens etablierte auch den Gedanken souveräner Staatlichkeit in Europa, durch den vorher als „rebellisch“ angesehen Gemeinwesen wie die Niederlande als eigene Staaten akzeptiert wurden und damit zukünftig auf Augenhöhe agieren konnten. Über die Jahre wurde diese Gleichberechtigung  dann weiter ergänzt durch die zunehmende Verdichtung internationaler Systeme (verstanden als Netz von Beziehungen zwischen prinzipiell gleichberechtigten souveränen Staaten zur Einhegung von imperialen Expansionsansprüchen). Innerstaatlich entspricht diesem Prozess im 18. Jahrhundert die Einrichtung von Parlamenten und der Aufstieg der Presse als Orten demokratischer Auseinandersetzung innerhalb von Staaten (zur Einhegung von revolutionären Bewegungen außerhalb des staatlich definierten politischen Raums).

Wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege, dass wir zur Zeit einen grundlegenden Kategorien-Wechsel im politischen Raum erleben, so stellt sich vor dem Hintergrund dieser Beispiele die dringende Frage, ob und wie es möglichst gewaltlos gelingen kann, die neuen Kategorien nicht nur zu erkennen und zu beschreiben, sondern durch Unter- oder Nebenordnung mit anderen Kategorien das System und die Institutionen so umzugestalten, dass konstruktive politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung zwischen kontroversen Positionen wieder in einem gemeinsamen Rahmen möglich wird. Nach welchen Kategorien wird sich unsere politische Landschaft organisieren? Welche sind „führend“, welche sind „folgend“? Welche Mechanismen werden wir nutzen, um Positionen, Interessen und Ansichten zwischen den verschiedenen Polen des Spektrums zu vermitteln? Oder – wenn meine Hypothese über die neuen Kategorien von oben stimmt – ganz konkret: Wie können wir eine gemeinsame Basis zur Diskussion zwischen Positionen finden, in denen „objektive Wahrheit“ einerseits gegen „subjektiv gefühlte Wahrheit“ andererseits steht?

Aber dazu ein anderes Mal – auf dieser Plattform oder an anderem Ort.

Verfasst von Anja Hartmann (Twitter).

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