In meiner fünften Zusammenfassung von Graebers Buch konzentriere ich mich auf das zehnte Kapitel: „The Middle Ages“. Alle Zusammenfassungen finden sich hier.
Europäische Irrtümer über das Mittelalter
Nach dem extrem materialistischen wie kriegerischen Achsenzeitalter folgt das Mittelalter – und Graeber überrascht einen (kenntnisarmen) Leser wie mich damit, dass zu der Zeit beileibe nicht „alles schlimm und schrecklich“ war. Das Ende des Achsenzeitalters bedeutete vielmehr vielerorts einen starken Rückgang kriegerischer Gewalt, die ja ein ganz wichtiges Kennzeichen der auf Eroberungszügen aufgebauten damaligen Imperien gewesen war. Die Sklaverei ging ebenso zurück. Der Handel nahm großen Aufschwung. Mehr Handel brachte mehr Austausch und mehr Innovation. Während die großen Reiche zusammenbrachen, entstanden derweil keine neuen – stattdessen traten die Religionen an ihre Stelle und stiegen zu großer Dominanz auf.
Dass wir in Europa die Vorstellung vom Mittelalter als einer dunklen Periode in der menschlichen Geschichte haben, liegt — so Graeber — am engen europäischen Blickwinkel und der besonders intoleranten Haltung der katholischen Kirche. In anderen Teilen der Welt wurde mit mittelalterlicher Religion anders umgegangen – nicht blinder Gehorsam stand im Vordergrund, sondern Zweifel, gar Verwirrung:
Man muss lange suchen, um mittelalterliche chinesische, indische oder islamische Parallelen beispielsweise zu „Hexen“-Verbrennungen oder dem Abschlachten von Ungläubigen zu finden. […] Wenn es eine Essenz mittelalterlichen Denkens gibt, dann ist es nicht blinder Gehorsam gegenüber der Herrschaft, sondern eher ein stures Beharren darauf, dass die Werte, die unsere täglichen Leben bestimmen – insbesondere jene vor Gericht und auf dem Marktplatz – verwirrt, irrig, illusionär oder pervers sind.
Ein anderer europäischer Irrtum bestehe darin, dass wir hier annehmen, das Mittelalter sei seinem Ende entgegen gegangen, als schließlich Kreditsysteme (wieder)eingeführt wurden. Ganz im Gegenteil sei Europa mit dem Mittelalter einfach nur spät dran gewesen – die Rückkehr zu Kreditsystemen (nach der großen Bedeutung der Münzen während der kriegerischen Achsenperiode) sei ein wichtiges Kennzeichen des Mittelalters gewesen. Nur eben nicht in Europa, oder hier erst deutlich später. Da die großen Imperien, die die riesigen Münzsysteme geschaffen und dann durch Raub und Sklaverei immer weiter ausgebaut haben, nicht mehr zur Verfügung standen, sind die Menschen wieder dahin zurückgekehrt, ausführlich Buch über Kredite und Schulden zu führen.
Das Schuldenproblem besteht weiter
Auch im Mittelalter schien es keinen Ausweg aus dem Problem der ständigen Schuldenkrisen zu geben. Immer und immer wieder müssen sich Regierungen und Autoritäten mit dem „Standardproblem“ auseinandersetzen:
Ob nun aufgrund einer Naturkatastrophe oder weil sie für die Beerdigung eines Elternteils zahlen müssen, fallen glücklose Bauern in die Hände räuberischer Verleiher, die dann die Felder und Häuser beschlagnahmen und die Bauern dazu zwingen, dort zu arbeiten oder Miete zu zahlen, wo einst ihr eigenes Land gewesen war.
Um die daraus entstehenden Aufstände und sozialen Unruhen zu begrenzen, haben Regierungen sich immer weiter darum bemühen müssen, das Problem zu lösen oder einzudämmen. Und so hat es beispielsweise in China immer wieder aufeinander folgend Wellen von Schuldenkrisen und Unruhen und von sich daran anschließenden Regierungseingriffen, Entschuldungsprogrammen und Verstaatlichungen gegeben.
China: für Marktwirtschaft, gegen Kapitalismus, und die Erfindung des Papiergeldes
In einer besonders interessanten Passage führt Graeber aus, dass die chinesische Politik – geprägt von einer über Jahrhunderte entwickelten konfuzianischen Bürokratie; diese hatte den Wechsel vom Achsenzeitalter ins Mittelalter überlebt – einerseits sehr intensiv damit befasst war, Märkte zu entwickeln und auszubauen. Zugleich jedoch, und das mag wie ein Widerspruch anmuten, gab es große Vorbehalte gegenüber Investoren und dem Profitstreben. Genauer: Händler sollten für eine nützliche und der gesamten Volkswirtschaft dienende Leistung bezahlt werden, weil sie beispielsweise Waren transportierten und zur Verfügung zu stellten. Nicht jedoch für die Spekulation mit Gütern:
Praktisch bedeutete dies, dass sie pro-Markt aber antikapitalistisch waren.
Graeber erkennt selbst an, dass dies auf Anhieb sonderbar erscheint, weil wir ja üblicherweise annehmen, dass Kapitalismus und Marktwirtschaft gleichbedeutend seien. Das dem nicht so ist, kann man in der Geschichte immer wieder sehen: die Eigentümer großer Kapitalvermögen haben sehr selten Interesse an funktionierenden Marktwirtschaften – das, was sie wollen, sind üblicherweise Monopole:
Aus diesem Grund versuchen Kapitalisten ausnahmslos, ob sie nun königliche Kaufleute, Investoren oder Industrialisten sind, sich mit politischen Autoritäten zu verbünden, um die Freiheit der Märkte zu begrenzen […].
Niemand sagt das derzeit übrigens deutlicher als der berüchtigte Peter Thiel, der einerseits in seinem Buch „Zero to One“ völlig unverholen das Loblied auf Monopole singt, und zugleich ja völlig offensiv die Nähe zu Donald Trump sucht.
Im mittelalterlichen China wollte man dagegen die Märkte beschützen gegenüber den Kapitalisten. Und laut Graeber hat diese Politik bemerkenswerten Wohlstand erzeugt:
Für den größten Teil seiner Geschichte hat China den höchsten Lebensstandard der Welt aufrecht erhalten können – selbst England zog wohl erst in den 1820er Jahren vorbei, lange nach der industriellen Revolution.
Zugleich entstanden in China aber auch die ersten großen kommerziellen Wirtschaftsimperien, in Form von buddhistischen Mönchsklöstern. Deren „Unerschöpfliche Schatzkammern“ wuchsen immer weiter an — unter anderem, weil (häufig regelmäßige) Spenden an die Mönchsorden im Buddhismus als der letztlich einzige Weg dargestellt wurden, mit der „Schuld der eigenen Existenz gegenüber dem Rest der Welt“ umzugehen. Bei manchen Festlichkeiten entstanden wettkampfartige Situationen, in denen wohlhabende Anhänger plötzlich miteinander darum stritten, wer den größeren Beitrag leisten konnte und schließlich ihre gesamten Vermögen an die Kloster spendeten. Die Kloster selbst wiederum bemühten sich, die gespendeten Gelder gewinnbringend anzulegen, und je geschickter sie damit waren, desto größer wurde ihr Reichtum. Dabei war diese Art buddhistischer Kapitalismus ja genau das, was die konfuzianischen Bürokratieapperate verhindern wollten:
Das war genau die Situation – riesige Konzentration von Kapital, das an nichts anderem interessiert war als an Profit – die die konfuzianischen Wirtschaftsregeln eigentlich verhindern sollten.
Und so wurden – als die Behörden endlich mitbekamen, was in und um die Kloster ablief – diese ebenfalls immer wieder enteignet und ihre Schuldner freigelassen.
China stand auch an vorderster Front bei der Erfindung des Papiergeldes im Mittelalter. Güter und Steuereinnahmen mussten im chinesischen Reich über weite Entfernungen transportiert werden. Anstatt dafür große Mengen Edelmetall mit sich zu führen, gingen zunächst die Händler und dann die Beamten dazu über, mit in der Mitte zerteilten Schuldscheinen zu reisen. Der Kreditgeber behielt die eine Hälfte, der Kreditnehmer die andere, und sie konnten bei einem Partner oder bei einer Regierungsstelle am Ziel der Reise wieder eingelöst werden. Anstatt dass die Kreditnoten eingelöst wurden, konnten sie aber auch einfach zur Bezahlung weitergegeben werden, was sie effektiv zu Papierbargeld gemacht hat. Die Erfindung entstand zunächst bei Privatleuten, aber – wie schon Jahrhunderte früher beim Münzgeld – der Staat hat sich die Sache sehr schnell abgeguckt und zu eigen gemacht. Diese Form des Papiergeldes hat jahrhundertelang bis zum 17. Jahrhundert in China bestens funktioniert. Dass China das erste Land war, in dem ein zentrales Papiergeld entstehen konnte, begründet Graeber mit der starken Bürokratie in China in Verbindung mit dem beschriebenen Misstrauen gegenüber den Kapitalisten:
Dass nur China im Mittelalter Papiergeld entwickeln konnte, lag überwiegend daran, dass nur China eine Regierung hatte, die groß und mächtig genug war, die aber auch – dank ausreichendem Misstrauen gegenüber den Handeltreibenden – überzeugt war, dass sie so eine Tätigkeit selbst in die Hand nehmen musste.
Begeisterung für die Marktwirtschaft im Islam
Während in China der konfuzianische Behördenapparat — tief integriert in den Alltag der Menschen — den Handel skeptisch im Blick behielt und überbordenden Kapitalismus verhindern wollte, sah das im Nahen Osten und unter der Herrschaft des Islams deutlich anders aus. Mohammed selbst hatte als Händler begonnen; der Handel und der Profit, den man dabei erwirtschaften konnte, wurden in keinster Weise als problematisch angesehen, im Gegenteil: da das Gesetz sehr stark gegen Auswüchse wie Sklaverei, das Verpfänden von Kindern oder auch gegen verzinsten Geldverleih vorging, wurden die Händler schlicht als diejenigen angesehen, die nicht nur reich wurden, sondern dabei auch noch die guten Dinge und Wohlstand ins Land brachten. Das Ergebnis war große Begeisterung für den Markt als Institution:
Ebenbürtig mit der Verehrung der Händler war das, was wir nichts anderes als die erste „Freie Marktideologie“ der Welt bezeichnen können. […] Einmal befreit von den uralten Geißeln Schuld und Sklaverei war der örtliche Basar für die meisten nicht zu einem Ort moralischer Gefahren geworden, sondern zum genauen Gegenteil: dem höchsten Ausdruck menschlicher Freiheit und kommunaler Solidarität, und darum musste er gewissenhaft vor staatlicher Einflussnahme geschützt werden.
Adam Smith hat sich bei seinen Schriften offenbar sehr von manchen derartigen islamischen Texte leiten lassen – allerdings mit entscheidenden Unterschieden. Er hat beispielsweise seine Abhandlungen zur Arbeitsteilung (anhand der Stecknadel) damit begründet, dass es in der Natur des Menschen liege, mit anderen schachern zu wollen. Die Geschichten aus dem Mittelalter, denen er seine Gedanken dazu entlehnt hat (es geht dort um die Produktion von Nähnadeln), stehen unter einer ganz anderen Prämisse: Arbeitsteilung ist Ausdruck der kooperativen Natur des Menschen – man sorgt für eine besser funktionierende Gemeinschaft, wenn der eine sich auf das eine konzentriert und der andere auf das andere, und sie so einander helfen, Probleme zu lösen. So entsteht ein anderer Blick auf die Dinge:
[…] Wenn man einmal von der Annahme ausgeht, dass es auf Märkten in erster Linie um Kooperation anstatt um Wettbewerb geht – moslemische Wirtschaftsdenker verstanden und akzeptierten die Notwendigkeit des Marktwettbewerbs, aber nicht als das zentrale Element – werden die moralischen Konsequenzen ganz andere.
Indem die Marktwirtschaftler – also: die Händler – im mittelalterlichen Islam ernst damit machten, die schlimmen kommerziellen Auswüchse früherer Zeiten zu verhindern, gelang ihnen ein bemerkenswertes Kunststück: sie schwangen sich auf zu bewunderten Führern ihrer Gemeinschaften, die schließlich auf einer Ebene neben den religiösen Oberhäuptern standen. Jedoch basierte ihr Konzept von Marktwirtschaft auf der Idee von Kooperation und Partnerschaft – sie war also im Kern eine völlig andere als die, die von heutigen Freimarktdenkern gefordert wurde und wird, basierend allein auf Eigeninteresse und Eigennutz.
Europa und der Katholizismus: der schleichende Weg zum Geldverleih
Interessanterweise stand die Kirche zunächst auf einem ähnlichen Standpunkt in Bezug auf Geldverleih gegen Zinsen:
Wenn du jemand aus meinem Volk, einem Armen, der bei dir wohnt, Geld leihst, so behandle ihn nicht wie ein Wucherer; ihr sollt ihm keine Zinsen auferlegen.
Graeber zitiert eine ganze Reihe von Beispielen dafür, wie die Kirche zunächst eine eindeutige und sehr klare Haltung zu Zinsen, Wucherern, Schulden und Schuldenerlass einnimmt. Dann aber kommt Saint Ambrose und predigt in Mailand. Und auch wenn er allgemein den Grundtenor der Kirche übernimmt und respektiert, macht er einen entscheidenden Unterschied, indem er aus Deutoronium 23:20 zitiert:
Von dem Ausländer darfst du Zinsen nehmen, aber von deinem Volksgenossen darfst du keine fordern, damit dich Jahwe, dein Gott, in allem segne, was deine Hand unternimmt in dem Lande, in das du einziehst, um es in Besitz zu nehmen.
Graeber spricht hier von „Ambroses Ausnahme“: beim „Ausländer“ endet das Gesetz – ihm darf Geld gegen Zinsen geliehen werden. Frage ist also: wer ist Ausländer? Aus Graebers Sicht bedeutete für die alten Juden, aus deren Zeit diese Texte stammen, „Ausländer“ fast immer „potenzieller Feind“, gegen den auch gekämpft wurde, den man also auch umbringen konnte. Dass man dem, den man umbringen kann, auch Geld gegen Zins verleihen darf, ist nicht schwer vorzustellen. Was bedeutet dies aber für den Handel? Die Kirche tat sich schwer mit Handeltreibenden, die ja häufig Ausländer waren. Jedenfalls war die Sicht auf jene, die durchs Land zogen und Waren aus fernen Ländern brachten, nicht im entferntesten so ehrerbietig wie im Islam, wo der Händler ja als leuchtendes Vorbild diente. Vielmehr hatte der Handeltreibende immer einen schlechten Beigeschmack, der ihn in die Nähe der Wucherer rückte.
Zudem erläutert Graeber, dass die Forderung der Kirche nach Wohltätigkeit – gute Gaben reicher Menschen an die Armen – letztlich zwar soziale Unterstützung beförderte, aber damit zugleich die bestehenden sozialen Verhältnisse zementiert: Wohltätigkeit ist nicht die Art Kommunismus, die von Jesus und einen Jüngern gelebt wurde und die die Unterschiede in der Gemeinschaft aufzulösen sucht – sie ist der Mechanismus zur Verfestigung der Wohlstandshierarchien. Und wenn in diesen Wohlstandshierarchien Feudalherrschaft und Vasallentum entstand, in denen reiche Männer von ihnen finanziell Abhängige hatten, die nach ihrer Pfeife tanzen mussten, hatte die Kirche dagegen auch nicht allzu viel einzuwenden.
Die schrecklichen Auswüchse dieser moralischen Uneindeutigkeit im Christentum wurden dann am sichtbarsten im Umgang mit dem Judentum. Nachdem Ambroses Ausnahme Kernbestandteil der damaligen Wirtschaftsregeln wurde, ging man zwar nicht so weit, die Juden direkt unter „Feinde“ zu fassen. Wenn man dieser Logik konsequent folgen und ihnen ihnen unter dieser Prämisse den Geldverleih erlaubte, hätte man sie ja auch ohne weiteres abschlachten können. Und doch näherten sich die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden bisweilen auf erschreckende Weise einer derartigen Feindschaft, wobei die Morde allerdings nie von den Juden verübt wurden. Letztlich ausschlaggebend war wohl vor allem, dass die weltlichen Herrscher der damaligen Zeit die Juden als Geldverleiher brauchten – zunächst, weil sie selbst Finanzprobleme zu lösen hatten, dann aber, weil die Juden als großartige Sündenböcke dienten.
Ganz gleich, was genau die Ursachen gewesen sein mögen: im christlichen Europa des Mittelalters gestattete die Kirche letztlich dem Schuldenproblem weiterhin seinen bekannten Lauf, das Verbannen des (Wucher)Zinses wie im Islam gelang nicht. Und ebensowenig gelang es, den Markt als Ort der Kollaboration und Partnerschaft zu sehen. In Europa bedeutete Markt immer Ort des kämpferischen Aufeinandertreffens – dort, wo der Handel als eine Art Platzhalter für Gewalt getätigt wurde. Und so waren die Orte und Arten des Handels im Westen oft auch Orte der Gewalt:
Venezianische Galeeren dienten zugleich als Handels- und als Kriegsschiffe, vollgestopft mit Kanonen und Seesoldaten, und die Unterschiede zwischen Handel, Kreuzzug und Piraterie hingen ab vom Gleichgewicht der Kräfte, je nach Augenblick.
Die großen Handelsimperien, die in dieser Zeit entstanden, wurden zu politisch mächtigen Gebilden, die vor Gewalt nicht zurückschreckten. Kriegerische Erbeutung wurde gar als Venture-Capital-Unternehmen finanziert — also genau das, was wenig später dann Grundlage für die Eroberung der neuen Welt wurde:
[…] jene, die Expeditionen planten, haben Anteile an Investoren verkauft, die im Gegenzug Rechte am entsprechenden Anteil an der Beute.
Der kapitalistische Konzern ist eine europäische Erfindung der Kirche
Wir haben gesehen, wie sowohl im Islam als auch im konfuzianisch geprägten China Wirtschaftskraft und Marktwirtschaft gemeinsam entstanden sind, aber die Auswüchse eines überbordenden Kapitalismus verhindert wurden: im Islam, weil die Händler selbst den Markt als Ort der ehrenvollen Kollaboration unter Partnern definiert und Auswüchse durch einen gemeinsamen Ehrencode vermieden haben – und weil sie zudem davon ausgingen, dass der Markt eine göttliche Erfindung sei. In China, weil die konfuzianischen Behörden dem Händler, seinen kapitalistischen Instinkten und den reichen buddhistischen Tempeln nicht trauten und ihnen immer wieder Riegel vorgeschoben haben. In beiden Fällen war das Ergebnis das gleiche: florierende Gesellschaften mit erfolgreichen Märkten – aber keine Entwicklung riesiger Konzerne nach Muster des modernen Kapitalismus. Denn für die Erfindung der kapitalistischen Konzerne bedurfte es einer Erfindung, die in Europa gemacht wurde: die Idee der juristischen Person.
Laut Graeber wurde diese Idee 1250 durch Papst Innozent IV ins kirchliche Recht eingeführt, gültig für Kloster, Universitäten, Kirchen, Gemeinden und Berufsvereinigungen oder Zünfte. Was waren diese „Corporations“, laut Graeber? Sie waren — aus einem religiösen Blickwinkel gesehen — den Engeln erstaunlich ähnlich:
[…] Einheiten, die wir uns dank einer reizenden juristischen Fiktion als Personen vorstellen, ganz wie menschliche Wesen, aber unsterblich, die nie durch das menschliche Durcheinander von Heirat, Fortpflanzung, Gebrechlichkeit und Tod gehen müssen. Um es in die passenden mittelalterlichen Begriffe zu fassen: sie sind den Engeln sehr ähnlich.
Graeber erscheint dies bedeutsam, weil wir ja heutzutage davon ausgehen, dass die Unternehmung als juristisches Konstrukt eine ganz normale Angelegenheit sei. Aber in Wahrheit sind sie ein sonderbarer europäischer Beitrag zur stetig wachsenden mittelalterlichen Sammlung metaphysischer Konzepte. Anders ausgedrückt: wer die Idee des Engels sonderbar findet, müsste eigentlich auch Anstoß an der Unternehmung nehmen. Aber diese Erfindung öffnete endgültig den großen kapitalistischen Imperien die Tür, und sie dominierten die Zeit bis 1971.
Das Mittelalter stellt damit eine etwa 800-jährige Brücke dar, über die eine Verbindung geschaffen wurde zwischen zwei Logiken zur Beherrschung der Welt: die militärisch-staatlichen Imperien des Achsenzeitalters, und die kommerziellen Imperien der Neuzeit, letztere gegründet auf der Idee, dass der Markt ein Ort des Kampfes ist, und dass Wucherzins zum Lebhen dazugehört.
Um diese Imperien wird es hier dann im nächsten Text zum Buch gehen.
Die Genossenschaften sind ebenfalls aus der Erfindung der juristischen Person hervorgegangen und stellt vermutlich eine der vielversprechensten Gesellschaftsorganisationsformen der Menscheit dar. Wir möchten damit die Schelte der katholischen Kirche ein wenig lindern, zumal die Egozentrische Perspektive der Aufklärung und der Lobgesang auf die Freiheit entschieden dazu beigetragen haben, dass die westliche Sicht auf die Welt heute nahezu ausschließlich vom I / Ich ausgeht und nicht vom WiR.
Was den Chinesen und den Islam angeht, sollte der Westen in der Tat langsam die Augen öffnen und gemäß Deinem Vorschlag „Von den Rechten lernen heißt konstruktiven Größenwahn lernen. Oder: Schluss mit dem Gejammer!“ ein paar neue „Tricks“ lernen (Weniger Ich, mehr Wir -> Konfuzius, Mehr Demut vor Allah/Gott/Natur -> dem Zusammenhang von allem mit Allen). Die Dialektik bleibt auch in Zukunft auf der Gewinnerstraße.
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Deine Artwork ist der Knüller! 🙂
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