Demokratie ist keine Dienstleistung – und auch kein Kampagnen-Job!

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Falsche Vorstellungen von Politik, die viele Menschen haben, werden sich bald womöglich rächen — genau zu einer Zeit, zu der sich viele (dankenswerter Weise!) politisch engagieren wollen. Das wird zu Frustration und Ärger führen. Deswegen möchte ich das hier mal kurz diskutieren.

Vier Beispiele:

Vor einigen Wochen war ich bei einer Podiumsdiskussion der Friedrich-Ebert-Stiftung, bei der es um Bürgermitwirkung und eDemocracy ging. Bei den Publikumsfragen wollten mehrere Menschen aus dem Publikum nicht davon hören, sich in ihrem politischen Engagement mit bestehenden Institutionen oder Parteien auseinander zu setzen, denn „das geht doch alles viel zu langsam!“ Beim Get-Together hinterher habe ich mich ein Weilchen mit Christopher Lauer unterhalten, der auch auf dem Podium gesessen hatte. Er sagte etwas sehr Interessantes: das Problem an der Politik sei mittlerweile wohl auch, dass wir Deutsche gelernt hätten, in einer Dienstleistungsgesellschaft zu leben. Da erwarten wir, dass die Dinge sofort passieren — das Amazon-Paket kommt idealerweise in einer Stunde, die Banküberweisung passiert per Mausklick, das Trouble-Shooting am Rechner wird sofort erledigt. Und mit genau dieser Haltung kommen die Leute nun zur Politik und wollen das da auch.

Zweitens, beim SaveDemocracy Day in Hamburg am vergangenen Wochenende, aber auch bei vielen anderen Treffen, erlebe ich, dass ganz viele Leute grade einen eigenen politischen Verein gründen oder gar eine neue Partei, und ganz beseelt davon sind, was sie jetzt auf diesem „blanken Blatt Papier“, das da quasi vor ihnen liegt, Großartiges schaffen werden. Was sie dagegen leider nicht tun: sich bereits bestehenden Vereinen anschließen und bei denen ihre Energie und Schaffenskraft einbringen.

Drittens, im Martin-Schulz-Interview von Richard David Precht (das ich gestern hier schon verlinkt hatte), gibt es ab Minute 16:16 eine sehr interessante Passage von Precht, die schließlich zu dieser Äußerung führt:

[…] Die großen Visionen, die unseren Gesellschaften in den letzten Jahren Veränderung abgenötigt haben, waren alles technische Visionen. Und dieses technische Denken ist extrem ausgeprägt bei den allermeisten Menschen. Also diese digitale Kodierung in „Like“ und „Dislike“. Und das spiegelt sich darin wieder, dass Menschen von der Politik erwarten, dass die Politik Probleme löst. Zum Beispiel das Problem, dass Google keine Steuern zahlt. Das finde ich eine erschreckende Verengung von Politik. Wenn man fragt: welches Problem hat Konrad Adenauer in den 50er Jahren gelöst? Oder: welches Problem wurde gelöst durch die Ostpolitik von Willy Brandt? Dann würden wir sagen: das ist keine zutreffende Beschreibung. […] Heute sieht es aber so aus, dass die Leute erwarten, dass die Politik Probleme löst. Das Flüchtlingsproblem lösen. Das Terrorproblem lösen. Tatsächlich haben wir es aber mit Prozessen zu tun, die gar keine Probleme sind. Ein Problem — das griechische Wort ‚problema‘ — ist etwas, das zur Lösung vorgelegt wird. Ein mathematisches Problem verschwindet, wenn ich die Aufgabe richtig berechnet habe. Und so erwarten die Leute: Politik ist Problemlöser. So reden Politiker auch. Es ist überall von Problemen die Rede. Aber Politik ist doch kein Problemlöser. Bei Politik geht es doch darum, gesellschaftliche Prozesse langfristig zu gestalten.

Viertens, bei vielen Veranstaltungen und Terminen, wo Leute zusammenkommen, die politisch etwas bewegen wollen, treffe ich überraschend viele Kommunikations- und Werbeleute. (Das mag an meiner Vergangenheit liegen.) Was viele dieser Leute eint, ist, dass sie sehr oft überraschend wenig Interesse an grundsätzlichen politischen Diskussionen haben. Bei einem Abend habe ich eine Art Zwei-Gruppen-Bildung erlebt — die einen wollten „schnell was Kampagnenartiges, irgendwie gegen die AfD, nicht so viel reden, lieber jetzt mal was machen.“ Die anderen — und dazu gehörte ich — wollten darüber reden, wo die wirklichen Probleme liegen, um zu verstehen, was eigentlich passieren muss, damit sich unsere Gesellschaften wieder in die richtige Richtung bewegen. Wir wurden dann von der „Kampagnengruppe“ sogar ein wenig herablassend als der „Debattierclub“ bezeichnet.

Dazu würde ich jetzt gerne mal vier Dinge festhalten:

Politik ist Streit und kostet Kraft.
Bei der politischen Arbeit geht es letztlich um nichts anderes als darum, mit anderen darüber zu streiten, wie wir in unserer Gesellschaft zusammen leben wollen. Wer also Mühe, Auseinandersetzung mit Andersdenkenden und vor allem: reden scheut, der hat grundsätzlich nicht begriffen, wie Politik funktioniert. Und genau deshalb ist auch die Weigerung, in bestehenden Institutionen etwas bewegen zu wollen, nichts anderes als Weigerung vor politischer Arbeit. Anders gesagt: wer nicht die Geduld, die Ausdauer, die Leidenschaft hat, in einem Verein, einer Ortsgruppe, bei einer Gewerkschaft, wo auch immer, den Kampf mit den Ewiggestrigen dort aufzunehmen und diese Gruppe nach den eigenen Vorstellungen umzuformen, wie soll so jemand überzeugende Politik für eine größere Gruppe von Menschen oder gar das ganze Land machen? Stattdessen die Gemütlichkeit von selbst ausgewählten Gleichgesinnten zu bevorzugen, ist vielleicht nachvollziehbar, aber letztlich oft nicht hilfreich. Das Gegenbeispiel der Kammerrebellen aus Hamburg ist deswegen auch so großartig. Die haben sich eine bestehende Institution vorgenommen, dort wieder die Demokratie gefeiert, und können sie jetzt nach ihren Vorstellungen umbauen. Aber deswegen sollte auch klar sein, dass man Politik nicht mit der Projekt-Manager-Mütze auf dem Kopf und dem Agile Projekt-Management-Tool unter dem Arm machen kann. Denn das sind Job-Beschreibungen und Instrumente aus Unternehmen, also: extrem hierarchischen Strukturen. Firmen mögen sich heute noch so funky und modern geben — am Ende hat jedes Unternehmen Herrscher und Untergebene. Politik dagegen ist Streit unter Gleichen. Per Definition. Und der ist mühsam.

AfD, Front National, etc. sind Symptome, nicht Probleme.
Man kann derartige Parteien und politische Strömungen, die Momentum haben und in der Gesellschaft wahrgenommen werden, nicht allein durch Kommunikation bekämpfen. Das führt zu nichts und ist vergeudete Mühe. Eine ganze Reihe linksliberaler Initiativen gründet sich derzeit auf dem Gedanken, dass man die Menschen ja nur daran erinnern müsse, wie gut es uns doch in unserem Land geht, und dass sie die Demokratie nur (wieder) wertschätzen und achten und sich an das schöne WM-Jahr 2006 erinnern müssen. Das ist ein Irrtum. Wir haben tiefliegende Probleme in unseren Gesellschaften und auf dieser Welt. Diese tiefliegenden Probleme sorgen dafür, dass Menschen verunsichert sind, Angst haben, sich Sorgen machen. Das nutzen die Rechten schamlos aus. Aber damit sind nicht die Rechten das Problem — sie bieten nur verlogene Scheinlösungen, die am Schluss alles noch schlimmer machen werden. Was es braucht, ist Interesse an den Fundamenten, auf denen unsere aktuelle politische Landschaft steht — und nicht das Bekämpfen der Fähnchen, die manche ganz oben auf’s Gebäude stellen.

Nur gemeinsam sind wir stark.
Gründer zu sein, ist toll. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man begeistert ist, eine neue Sache komplett nach eigenen Vorstellungen entwickeln zu können. Unternehmertum ist eine großartige und wichtige Sache. Bei politischer Arbeit dagegen ist der Start von null weniger nützlich. Denn es gibt einen massiven Unterschied zwischen Unternehmertum und politischer Arbeit. Ein Unternehmen ist, siehe oben, eine komplett hierarchische Angelegenheit — anders ausgedrückt: eine Diktatur. Und zwar ohne Abstriche. Das sagen heute nicht mehr allzuviele Unternehmer gern, und es wird von „flachen Hierarchien“ und „total kollaborativer Arbeitsatmosphäre“ geschwafelt, aber in Wahrheit haben die Eigentümer das Sagen, der Rest nicht. Wenn man einen Betriebsrat hat, ändert sich daran etwas, aber welche jungen Unternehmen haben heute noch Betriebsräte? Das bedeutet, dass diejenige, die sich als Unternehmerin betätigt, halt immer nur genau das tut, was sie für richtig hält. Punkt. Politische Arbeit in einer Demokratie wie unserer ist dagegen von Anfang an und immer auf Kompromisse angewiesen. Sie erfordert, dass man sich immer und immer wieder mit anderen zusammenrauft, die einfach nicht so wollen wie man selbst. Dem zu entfliehen und „ein eigenes Ding“ zu machen, weil es einfacher scheint, ist vielfach nur eine Scheinlösung. Man verzettelt sich in vielen kleinen Strukturen, anstatt mit anderen die eine große zu schaffen, mit der man dann wirklich an einem großen Rad drehen kann. Wenn wir uns nicht in großen Strukturen zusammen tun, werden wir viel zu viel Energie vergeuden, weil wir schlicht alle zu klein bleiben und nicht das politische Geschäft miteinander lernen.

Anders gefragt: über was reden wir bei den Rechten? Über Pegida und AfD, oder über 278 Vereine und Gruppierungen, die alle irgendwie ganz innovativ was gegen Flüchtlinge tun wollen? (Zugegeben: Pegida und AfD sind Neugründungen. Aber das liegt halt daran, dass die bisherigen tief rechten Vereine gesellschaftlich nicht akzeptiert waren. Das ist auf der gesunden Seite des politischen Spektrums anders.)

Ideen für eine neue Welt
Das Problem, das wir heute haben, ist, dass die Unmöglichkeit die Seiten gewechselt hat. Noch vor wenigen Jahren wurde jemand, der mit utopischen Ideen kam, als unrealistisch ausgelacht. Heute merken wir alle langsam aber sicher, dass stattdessen das Festhalten an einer visionslosen Realpolitik mittlerweile als unrealistisch ausgelacht werden sollte. So zu tun, als kämen wir bei den Herausforderungen der heutigen Zeit mit einem geringfügig modifizierten „Irgendwie-Weiter-So“ voran, ist ebenso unrealistisch-weltfremd wie vor fünfzehn Jahren die Forderung nach einer autofreien Stadt oder nach einer Bürgerversammlung gewesen wäre. Das, was wir jetzt brauchen, sind keine Kampagnen und keine vierhunderttausend neue Vereine — was wir brauchen, sind neue große Ideen. Und unendlich viele Gespräche, zwischen allen Menschen in diesem Land — damit wir weiter zusammen bleiben und nicht auseinander driften. Wir müssen Ideen dafür entwickeln, wie wir den wildgewordenen Hyper-Kapitalismus, die Armut und die Hoffnungslosigkeit in der Welt, die Intoleranz und den Wahnsinn religiöser Fundamentalisten, sowie die Zerstörung unserer Umwelt und dieses Planeten bekämpfen. Aber das gelingt nicht damit, gegen etwas zu sein, bzw. jetzt mal akute Problemlösungen bei der Politik einzufordern. Es geht nur mit dem gemeinsamen Kampf für etwas. Für etwas Neues. Das wir erfinden, diskutieren und worüber wir streiten müssen.

Und je mehr wir sind, die das gemeinsam tun, desto besser.

16 Kommentare

  1. Lieber Martin,

    mit Freude lese ich Deine Beobachtungen. Und Du triffst leider des Pudels Kern – die Tatsache, dass es letztlich leichter ist sich einem Unternehmen (>einer Diktatur) mit einer eigenen, klar geregelten Rolle zu unterwerfen als ein aktiver Teil des zermürbend vieldimensionalen Diskurses im politischen oder auch sozialen Spektrum zu sein, trifft auch auf mich zu. Erschütternd, aber umso wichtiger, dass Du diesen Zusammenhang so klar aufzeigst.

    Erinnerst Du Dich an den Talk von Simon Sinek? Die Generation der 00er Jahre wird noch sehr viel stärker auf LIKE/DISLIKE gepolt sein – und demzufolge noch weniger willens bzw. überhaupt darauf trainiert/in der Lage sein, sich den Anstrengungen des demokratischen Diskurses hinzugeben.

    Da kommt das nächste systemische Problem angerauscht, das es zu beachten gilt. Und es hat jetzt schon ziemlich Tempo drauf.

    Liebe Grüsse
    ingo

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  2. Lieber Martin,

    ein kleiner Widerspruch (erneut…), gleichsam viel Zustimmung. Zum Widerspruch: Politik ist kein Streit (Headline), sondern eine Auseinandersetzung, eine stetige Auf Streit hat niemand Lust, auf eine konstruktive Auseinandersetzung kann man Lust haben.

    Zu den Ursachen: Jahrelang und noch heute haben insbesondere die Politikerinnen dafür gesorgt, dass wir uns wenig einmischen, sondern am besten nur wählen gehen. Partei- oder Sachdiskussionen wurden im kleinen Kreis entwickelt, niemals im offenen Standard. Die Politik so: Wir kümmern uns schon, Hauptsache, ihr wählt uns. Man hatte selten genug den Eindruck, dass sie sich Zeit nehmen, ihre Politik zu erklären. Das muss sich ändern.

    Politik hat sich über viele Jahre auch durch die Sprache distanziert. Ich bin fest davon überzeugt, dass viele Menschen die Ausführungen von Politikern nicht verstehen, weil sie zu geschraubt formulieren. Hier braucht es eine andere Sprache. Gleichzeitig ist es auch die Herausforderungen für Medien, Politik anders und einfacher zu beschreiben. Journalisten müssen mehr und besser erklären. Der Blick in die Berichte von Regionalzeitungen über Stadtratssitzungen sind sehr häufig eine Qual. Das lässt sich ändern, wenn man es will.

    Gleichzeitig bleibe ich sehr gern dabei, was ich in meinem Blogpost http://www.cdv-kommunikationsmanagement.de/wo-stehe-ich-eigentlich-selbst-politisch/ ausgeführt habe. Wir müssen Demokratie schon im nächsten Umfeld beginnen und vielleicht sogar üben. Demokratie fängt im Dorf an. Ich kann nicht erwarten, dass jemand die ganz große Politik versteht und darin mitmischt, wenn es im direkten Umfeld nicht gelebt wird. Dann wird auch deutlich, dass Politik Prozesse sind, manchmal langatmig, und dass es nicht um „mal eben machen“ geht. Und dann können wir gern auch über Utopien reden, sehr gern sogar. 😉

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    1. Christian, danke für Deinen Kommentar.
      Was die „Schuld“ dafür betrifft, warum sich viele Menschen aus der Politik zurück gezogen haben, kann man sicherlich lange reden, aber letztlich ist das aus meiner Sicht nicht so entscheidend. Jetzt müssen wir nach vorn gucken und uns fragen, was wir nun anders machen können. Und alle in der Politik, die ich heute treffe, wünschen sich, dass die Menschen sich mehr engagieren. Auch wenn das nicht automatisch heißt, dass die Parteien deswegen gleich wissen, wie man mit diesem Engagement umgeht. Aber das müssen sie halt lernen. Was wiederum dafür spricht, bei etablierten Einrichtungen mitzumachen — damit die das Mitmachen der Menschen auch wieder neu lernen.

      Die Sache mit der Sprache ist sicher richtig. Wie in vielen Bereichen hat sich auch in der Politik ein eigener „Sprech“ etabliert, verschärft noch dadurch, dass ja öffentlich jedes Wort aus der Politik auf die Goldwaage gelegt wird. Das ist auch mit ein Grund, warum Martin Schulz Zustimmung erfährt. Der spricht oft anders als „Standardpolitiker“.

      Der Start in der Kommune und an der Basis ist sicher ein guter Gedanke.

      Und alles in allem kann ich nicht finden, dass wir uns uneinig sind. 😉

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  3. Wollte an einigen Stellen des Textes schon anfangen zu kommentieren, aber nehme nun deinen letzten Punkt als Einstieg.

    Richtig ist, dass wir einen Kampf FÜR etwas führen sollten. Falsch ist, dass dieses etwas Neues sein muss. Konkret handekt es sich um Demokratie, Aufklärung und Marktwirtschaft. Drei Dinge, die von den neoliberalen und neokonservativen Strukturen, die unser aller Leben in den letzten Jahrzehnten bestimmten (und bei denen viele auch durchaus gerne mitmachten), zerrieben wurden. Nicht falsch verstehen, vor dem Ende des Goldstandards, vor Thatcher, Reagan, Clinton und Schröder hatten wir im „freien Westen“ kein Paradies, in dem diese drei Dinge superflockig liefen. Man könnte sogar argumentieren, dass der neoliberale Durchlauferhitzer der letzten Jahrzehnte sowohl den wichtigen Förderung des Individuum als auch dem wachsenden Umwelt/Gaia/Nachhaltigkeits-Bewusstsein große Dienste geleistet hat. Der Turbo hat sehr vielseitig gewirkt, aber er ist nunmal nicht geeignet für die Langstrecke.

    Also, Demokratie, Aufklärung und Marktwirtschaft. Damit soll man also jetzt die Leute hinterm Ofen hervorlocken? Da sage ich ja. Was mir an Leuten wie Precht übel aufstösst, ist der fehlende Mut. Sie können wunderbar auf einem Werkzeug (Internet) und den kommerziellen Nutznießern der aktuell dominanten Nutzungsformen herumnörgeln, aber haben nicht den Mut einen Schritt weiterzugehen. Normativ zu werden. Die Verdammnisgespräche über das Internet (pauschal und ohne Detailwissen meist) kommt mir mehr wie eine Masche als ein echter Wille zum Kampf für etwas Besseres vor.

    Konkret: Streichen aller Staatsschulden, den Banken die Macht zur Geldschöpfung komplett oder fast komplett wegnehmen und wieder in die Hände nationaler und supranationaler Politik legen, nur dort kommt der Output auch potentiell den Menschen gerecht zur Verwendung. Eine Steuer auf Spekulationsgeschäfte jeglicher Art und je größer, desto kurzfristiger die Spekulation.

    Aber die Sache hat einen Haken. Die Banken (und die bereits Reichen) waren nur die zentralen Hauptnutznießer des Turbos der letzten Jahrzehnte. Wir alle (okayfast alle, also ich weiss, dass ich auf jeden Fall) haben bei dem Spiel mitgemacht. Gewonnen. verloren, gewonnen usw. Ergo – und jetzt kommt der erste Hard Part – der Kampf für etwas Neues fängt bei jedem einzelnen Schweinehund an. Problem, manche „Deals“ (um mal in der untergehenden Trump-Sprache zu reden) hat der Einzelne abgeschlossen, um sich und seine Familie „abzusichern“. Leider waren sehr viele dieser Deals auch teilweise oder komplett faule Wetten auf die Zukunft. Ich werf mal so Stichworte wie Lebensversicherung, Bauspar-Tralala uvm. in den Raum. ALL BETS ARE OFF. THE RACE WAS RIGGED.

    Du siehst, wenn man diese Ehrlichkeit über den Stand der Dinge (und ich habe mich hier sehr kurz gefasst) an den Tag legt, wird das aufgefrischte, reflektierte, mit sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit ergänzte Kämpfen um Demokratie, Aufklärung und Marktwirtschaft (≠ Kapitalismus) eine echte Herausforderung. Die letzten vierzig Jahre waren eine Lüge, eine Wette auf die Zukunft, die nie gewonnen werden konnte, weil sie zu gierig war. Und ich mich glaube zu erinnern, dass wir ähnlich alt sind, bedeutet das, dass die Realität, die sich um unser Leben abgespielt hat, eine Illusion war. It’s Time to get real.

    Der Kapitalismus ist tot. Seit 2009. Seitdem wird er mit milliardenfacher Überschwemmung der Geldmärkte mit neuem Geld und anderen ruhigstellenden Massnahmen künstlich am Atmen gehalten. Warum? Weil es Mut bräuchte zu sagen, dass das Spiel, das große Spiel, vorbei ist und man sich jetzt mal anfangen sollte zu überlegen, wie man mit einem einigermaßen mord- und totschlagfreiem Übergang eine Marktwirtschaft, eine parlamentarische Demokratie und eine grundlegenden und 21st-century-upgedatete Aufklärung aufbauen kann.

    Und die alten Zeiten geben uns viele Ideen, die wir updaten können. Ganz praktische wie das Prinzip der Genossenschaften, aber auch anspruchsvollere wie ein normatives Nachdenken über die digitale Mündigkeit. Meint also nicht, wie man einigermaßen mit Fazebook & Co. umgeht, sondern wie das Digitale anders einsetzbar ist, sodass die Bequemlichkeit des Digtialen mit den Vorteilen des physischen Raumes besser kombiniert werden. Aber das ist nur ein Aspekt von vielen. Es gibt ein Meer an guten (und getesteten) Ideen, groß und klein, die Bausteine einer anderen Gesellschaft sein können. Es muss nur jemand neu die Linien verbinden. DAS ist eine politische Aufgabe des aktuellen Jahrhunderts.

    Ich mach hier mal stop, ist schon ein bisserl länger geworden als geplant. An anderer Stelle gerne mehr und mehr konkreter. Hoffe es war ein wenig anregend und bedanke mich fürs Lesen.

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    1. Lieber Martin, erst einmal meine Hochachtung und ein Danke an das was du gerade machst und uns teilhaben lässt. Ich lese mit großem Interesse und dein aktueller Artikel hat mich doch wieder zum Nachdenken gebracht. Ich war lange Jahr aktiv, ja sogar auch hauptamtlich in der Politik. Ich habe mich dann etwas zurückgezogen und meine Erfahrungen im Unternehmertum gemacht. Ich stimme dir nur zum Teil zu, dass über die sicher immer hierarchische Anordnung nicht doch auch etwas, auch politische zu bewegen sei. Wenn Menschen in Unternehmen erfahren, dass sie wertvoll sind, mit dem was sie einzubringen haben, dann öffnen sich auch viele Gelegenheiten für Gespräche und Auseinandersetzung. Ich stimme dir voll zu, dass es gerade zur Zeit notwendig ist sich aktiv in die bestehenden Parteien einzubringen. Für viele, auch für mich ist es allerdings schwer, die verkrusteten Strukturen zu sehen und dann zu hoffen Veränderung bewirken zu können. Ich vermisse da auch die Streitkultur oder sich Zeit dafür zu nehmen und es scheint ein mühsamer Weg da wieder hinzukommen. Es lohnt sich auf jeden Fall darüber nachzudenken, wo der Ansatz wäre Veränderung mit zu gestalten.

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      1. Hallo Gila, danke für Deinen Kommentar! Zur Hierarchie in Unternehmen: natürlich kann man innerhalb von Unternehmen auch etwas bewegen, trotz ihrer hierarchischen Strukturen. Aber gesellschaftlicher Wandel funktioniert ja dann doch ganz anders als die Einführung einer neuen Mitarbeiter-Motivations-Maßnahme in einer Firma. Und das sollten Leute wissen, die aus Unternehmen in die Politik wollen, finde ich.

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    2. Hallo Jens, danke für Deinen Kommentar.

      Ich sehe keinerlei Widerspruch in dem, was Du kommentierst zu meinen oben ausgeführten Gedanken. Allerdings bin ich mit manchen Dingen nicht einverstanden.

      Dass wir uns „ausgesucht“ haben, bei dem Rennen des Kapitalismus mitzumachen, ist nur sehr zum Teil richtig. Die Millionen Menschen, denen gesagt wurde, die Rente wird nicht reichen, daher jetzt bitte Riester & Co., die haben sich das nicht ausgesucht.

      Zweitens, der Dreiklang „Demokratie, Aufklärung und Marktwirtschaft“ reicht bei weitem nicht aus. Was fehlt: ganzheitliche Verantwortung für unsere Rolle als Menschen auf dieser Erde (es sei denn, Du fasst das mit unter Aufklärung).

      Dann, zu Precht: ich glaube, dass er seine Rolle als die des Fragestellers sieht. Und das finde ich in Ordnung. Er legt den Finger in die richtigen Wunden, so, wie es eigentlich die Journalisten tun sollten, die aber viel zu beschäftigt damit sind zu „berichten“, welchen letzten Furz wieder welches AfD-Arschloch gelassen hat, oder welches neue Hemd Martin Schulz grade trägt. Die normativen Entscheidungen zu diesen Fragen müssen wir dann alle gemeinsam als Gesellschaft fällen, aber die richtigen Fragen zu kennen, hilft auch schon mal.

      Du suggerierst so ein wenig, ich würde nicht die nötige Ehrlichkeit an den Tag legen wollen. Das ist nicht so. Die Probleme sind groß, und da müssen wir ran. Ja, das Spiel ist tot, und wir wissen nicht, welches als nächstes kommt — ganz genau: hoffentlich ohne Mord und Totschlag. Exakt in so einer Situation aber zu behaupten, dass in Zeiten wie diesen die Antworten alle in der politischen Mottenkammer liegen, die man nur ein wenig abstauben muss („Richtig ist, dass wir einen Kampf FÜR etwas führen sollten. Falsch ist, dass dieses etwas Neues sein muss.“), erscheint Dir aber vielleicht selbst ein wenig naiv, wenn Du Deinen eigenen Kommentar nochmal durchliest, oder? 😉

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      1. Meine Kommentar war auch nicht als „Widerspruch“, sondern als Ergänzung gedacht. Es war auch nicht meine Intention fehlende „Ehrlichkeit“ unterschwellig oder direkt zu unterstellen. Das nur vorneweg.

        Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Aber natürlich sind die Vorstellungen und gelebten Konkretisierungen von Demokratie, Aufklärung und Marktwirtschaft ein ewiges Streben, bei dem man nie denken sollte, man hätte das Optimum erreicht.

        Das mit der politischen Mottenkammer kann ich also nicht stehenlassen. Die Aufklärung ist jung, ihre Durchbrechen im 18. Jahrhundert war von etlichen Rückschlägen und Verirrungen gefolgt. Da ist also noch jede Menge Luft nach oben. Die Idee der Demokratie ist in ihren Grundlagen verstanden, aber weit davon entfernt, uns in Fleisch und Blut überzugehen. Also auch hier noch sehr viele Kapitel ungelesen. Und dass unserer Hände und Geistes Arbeit in einem neuen sozial und ökologisch erweiterten Mindset wieder Respekt erfährt und aus seinem undankbaren Blinddarm-Dasein des geldsch****ssenden Esel namens Kapitalismus herausgeholt wird, wird auch immer mehr Leuten klar.

        Die neue alte Idee ist immer noch, dass wir als Spezies, als planetare Gemeinschaft denken und leben sollten. Das tun wir nicht. Da ist noch ein langer Weg zu gehen und vieles auf diesem Weg wird einem revolutionär hebend vorkommen. Die kosmopolitische Gesellschaft ist erst in ihren Anfängen.

        Kurz eingeschoben zu deiner Eingangsbemerkung. Jeder war Teil des Spiels und eine der wichtigsten ersten Schritte ist es, dies sich selbst einzugestehen. Natürlich hat der aufstrebende Proletarier (der sein Spiegelbild in Schröder findet) anders bei der Phase des neoliberalen Durchlauferhitzers profitiert als sein bürgerlicher Mitspieler. Aber die Versprechen eines ewigen Wachstums der geldgetriebenen Märkte ist ein Großteil der Menschen im Westen anheimgefallen. Jeder auf seine Art. Der eine im Casino der Börse, der andere mit vermeintlich spiessigen, institutionell verpackten Wetten auf die Zukunft. Viele haben es nicht wissen wollen. Solange man (vermeintlich) gewinnt, schaun viele halt nicht genau hin. Es gibt also, um dir da klar zu antworten, weniger „Opfer“ als es das viele Opfergeschrei glauben lassen mag.
        Aber es ist müssig, an dieser Stelle zu verweilen. Denn es bringt wenig. Aber es hilft, sich von den letzten Ausläufern dieses großen Versprechens zu lösen. Nur dann geht’s voran.

        Ich halte Precht hinsichtlich der Klarsicht für überbewertet, aber er hat ein Talent, die Leute nachdenklich zu machen. Mich störte nur öfters eben sein Zukurzfallen am Ende seiner Argumentation. Internetbashing ist halt dann doch weit von normativen Fragen entfernt. Und ich gebe dir recht, dass die richtigen Fragen ein guter Anfang für ein revolutionäres Reload sind.

        Meine Frage: Beschreibe mir doch mal, gerne auch grob, deine Gedanken, die dir einfallen, wenn es um das Wesen dieses „Neuen“ geht, was es bräuchte. Gerne auch unstrukturiert.

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      2. Grundsätzlich sind wir uns ja komplett einig. „Die neue alte Idee ist immer noch, dass wir als Spezies, als planetare Gemeinschaft denken und leben sollten.“ — Wenn das Leben und Denken als planetare Gemeinschaft aus Deiner Sicht (auch) eine alte Idee ist, dann soll mir das recht sein. Jedenfalls ist das die ultimative Herausforderung. Heute ist es halt noch so, dass die Menschen dann, wenn man ihnen was von Elektromobilität erzählt, allzu häufig noch sagen „Ja, ist interessant, aber für mich rechnet sich das ja nicht.“ Um mal wieder auf den Boden der aktuellen Realität zurückzukehren. 😉

        Die Sache mit den Opfern — das sehen wir vielleicht unterschiedlich, ist aber auch ok so.

        Was „das Neue“ betrifft: so weit bin ich noch nicht. Es ist alles noch viel zu sehr Flickenteppich und Zettelkasten, als dass ich da was aufschreiben könnte. Meine Hoffnung war ja, bei der Republica einen ersten Aufschlag machen zu können, aber es ist wohl höchst ungewiss, ob sie mich da nehmen.

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