Am vergangenen Sonntagabend habe ich mit einem meiner besten und ältesten Freunde über dieses Blogprojekt gesprochen. Wir kennen uns schon aus der Schule.
Ein anderes Leben
Er hat eine andere Vergangenheit und führt ein anderes Leben als ich — er kommt aus einem anderen familiären Hintergrund, schon im Studium hat er sich mit Politik auseinander gesetzt, er war früher sehr aktiv in der Kirche; politische Bildung und kritische Reflexion der gesellschaftlichen Zustände sind schon lange Teil seines Lebens. Anders als ich ist er verheiratet und hat Kinder; er arbeitet in einem ganz anderen Beruf als ich. Wer uns beide kennt, wird feststellen, dass man unterschiedlichere Charaktere selten findet. Wie das hin und wieder ist, bei guten Freunden.
Unser gemeinsamer Nenner war lange die Musik, zusammen waren wir ein Gitarrenduo; Politik oder die Entwicklung unserer Gesellschaft kam in unseren Gesprächen eher am Rand vor — wenn überhaupt. Das lag wohl vor allem daran, dass ich selbst viel zu lange unpolitisch war, was ich in meinem Einführungstext zu diesem Projekt schon beschrieben habe. Viele Jahre lang stand ich für längere Gespräche ohnehin wegen meines Jobs nur selten zur Verfügung — wenn sie doch mal stattfanden, haben wir sie eher zum gegenseitigen Update über unser beider Leben genutzt.
Heute liest er regelmäßig Kaffee & Kapital. Aber er sagte mir, dass er sich hin und wieder schon wundere, mit welchem Staunen ich manche Dinge einerseits entdecke, und andererseits als allgemeine Neuigkeit und Sensation anpreise, obwohl diese doch seit Jahrzehnten bestens bekannt seien. Dass Adam Smith kein harter Vertreter einer neoliberalen Wirtschaftsdenke war, sondern eher ein nachdenklicher Moralphilosoph — wie ich es in meiner Zusammenfassung der Arte-TV-Beiträge herausgearbeitet hatte — werde doch schon lange gelehrt. Und das Konzept von positivem und negativem Frieden sei doch in der Friedensbewegung schon vor Jahrzehnten rauf und runter diskutiert worden — das heute als „neu“ zu entdecken, sei ja schon ein wenig sonderbar.
Wie sonderbar das ist, hängt wohl sehr vom eigenen Standpunkt ab.
Das unkritischste Studium der Welt, am Ende der Geschichte
Ich habe, anders als er, internationale BWL studiert, zwischen 1994 und 1999. (Aus Gründen, die zu erläutern an dieser Stelle zu weit führen würde.) Fünf Jahre vor Beginn meines Studiums fiel die Mauer. Vier Jahre vor Beginn meines Studiums fand die deutsche Wiedervereinigung statt. Betriebswirtschaftslehre zu studieren hieß damals, die Lehre zu studieren, die für sich in Anspruch nahm, gewonnen zu haben. Der Kommunismus war besiegt, die BWL war mit allem Möglichen beschäftigt, aber nicht mit Kritik an sich selbst, oder mit Fragen der Friedensbewegung. Aus Sicht der Marktwirtschaftler hatten wir das Ende der Geschichte erreicht, wir brauchten nicht mehr über Krieg und Frieden nachzudenken. Gegen Ende meines Studiums wurde dann auch noch Gerhard Schröder zum Kanzler einer rot-grünen Regierung gewählt, endlich waren wir den bleiernen Helmut Kohl los. Wir hatten Jelzin. Wir hatten Clinton. Beide gehörten damals „zu den Guten“. Auch nach dem Studium hatte ich also das Gefühl, ich bräuchte nicht über Politik nachzudenken — die schien in trockenen Tüchern.
Ich habe dann zunächst fünf Jahre in Werbeagenturen gearbeitet. Wenn man auf der Welt einen Ort sucht, an dem keinerlei Fragen zum politischen System und seinen ökonomischen Regeln gestellt werden, dann ist man in einer Werbeagentur gut aufgehoben. Wer sich tagaus tagein hektisch darüber Gedanken macht, was der konsumeristische Zeitgeist grade erfordert, wie man mehr Shampoo verkauft, oder warum dieser Chef oder jener Kunde sich derart seltsam benehmen, lernt nicht zugleich, die Systemfrage zu stellen. Die Präsentation muss schließlich fertig werden! Später habe ich mich selbständig gemacht, ebenfalls im Konsumgüter-Marketing. Wenn Selbständige eines nicht haben, dann ist es Zeit zum Grübeln über das große Ganze. Denn sie haben alle Hände voll zu tun, die Regeln des Systems auszuloten, um sich über Wasser zu halten. Und irgendwann nicht mehr nur sich selbst, sondern dann auch ihre Mitarbeiter.
Geteiltes Unwissen ist doppeltes Unwissen
Mit anderen Worten: ja, ich bin politisch unwissend. Und ja, wer das nicht ist, mag sich über meinen Blog und meine Texte hin und wieder wundern. Ich glaube aber, dass dieses Projekt deswegen nicht unnütz ist. Ganz im Gegenteil. Mir scheint, als ob erstaunlich viele Menschen hierzulande mit einer Geisteshaltung aufgewachsen und erwachsen geworden sind, die meiner ähnelt: wir stellten uns viel zu lange viel zu wenige Fragen zu großen Themen unseres Zusammenlebens; die Politik schuf Rahmenrichtlinien und war Problemlöser, und im Zentrum standen letzten Endes ausschließlich rein wirtschaftliche Fragen, wenn Entscheidungen getroffen werden mussten: können wir uns das leisten, rentiert sich das, wer bezahlt das denn? Hinzu kommt: diejenigen, die so zu denken gelernt haben, sitzen heute an den ökonomischen Hebeln der Macht. Kritische Gespräche über das System als Ganzes, friedenspolitische Debatten, oder die Deutung der Absichten von Adam Smith wird man in der Management-Etage einer Bank, in einer Marketingabteilung bei einem Konsumgüterkonzern, oder in einer globalen Unternehmensberatung selten finden. Diejenigen also, die vielleicht am schnellsten manche fundamentalen Dinge verändern könnten, wollen am wenigsten darüber wissen — warum auch: sie sind ja die aktiven Teile und Nutznießer des Systems, das viele unserer Probleme hervorruft.
Mit ihnen habe ich studiert, gearbeitet und gelebt — über zwanzig Jahre lang.
Kein Zustand, sondern eine persönliche Fortbewegung
Ich erhebe daher heute für mein Blog und für meine Arbeit weder den Anspruch, mit ein paar Texten die Welt verändern zu können, noch hier auf den Stein der Weisen zu stoßen. Aber ich hoffe, dass ich auf meiner eigenen Reise hin zu manchen Kenntnissen, die mein alter Freund schon lange hat, noch ein paar mehr Menschen mitnehmen kann, die hauptberuflich über Instagram-Kampagnen nachdenken, keine Politik studiert haben, und bis zum 9. November 2016 dachten, die Politik solle sie einfach in Ruhe ihren Job machen lassen. Menschen, die ein ähnliches Leben geführt haben wie ich, die ähnlich wie ich manche Ideen heute neu entdecken müssen, selbst wenn diese für andere ein ganz alter Hut sind.
Noch einen Schritt weiter: wir brauchen einen Dialog — zwischen links und links
Am Montagabend letzter Woche war ich zum zweiten Mal beim Treffen der Solidarischen Gesellschaft, auf dem Platz vor der Volksbühne. Dabei erlebte ich schon eine Art Vorschau auf das Gespräch, das ich dann am Wochenende mit meinem Freund geführt habe. Menschen, die jetzt seit neuestem den Kampf für die Demokratie entdecken, trafen dort auf andere, die schon einen langen Kampf für Solidarität und Gerechtigkeit hinter sich haben. Während die neuen demokratisch-progressiven Aktivisten heute — mit frischer Leidenschaft und Passion ausgestattet — viel bewegen wollen, wissen die alten Kämpfer eine Menge mehr, haben sich schon viele Gedanken gemacht, einen Haufen Debatten ausgetragen und viel konzeptionelle Arbeit geleistet, die heute nicht noch einmal neu gemacht werden muss. Aber wenn diese Welten aufeinanderprallen, kann ebenso leicht Streit entstehen. Denn wir neu Motivierten sind in mancherlei Hinsicht mehr als naiv, während die alten Kämpfer eben auch abgekämpft sind, und nicht mehr ganz die Passion für den Neustart mitbringen, den es heute braucht. Aber deswegen müssen wir voneinander lernen, miteinander reden und natürlich auch miteinander streiten. Damit die Passion der einen und das Wissen der anderen auf optimale Weise verbunden werden kann.
Genau deswegen wollte ich ja (eigentlich) viele Bücher lesen. Denn da stehen die Gedanken derer drin, die mit diesen Themen schon mehr Zeit verbracht haben. Weil es eben auch nicht hilft, wenn man sich jetzt hinstellt und meint, eine progressive Politik könne man nun komplett neu erfinden. Sie muss vielleicht neu gedacht und neu erzählt werden, sie muss neu ausgerichtet und auf die moderne digitalisierte Welt angepasst werden. Aber sie sollte bestehende Fundamente und Vorarbeit nicht einfach ignorieren.
Es geht nicht allein um Innovation — es geht um Tipping Points
Und so ist Frage ist nicht, wie innovativ die Ideen sind, die ich hier beschreibe. Innovation ist ohnehin nie absolut — sie ist immer relativ zu denen, auf die sie stößt. Die Frage ist allein, wo und wie wir in unterschiedlichen Bereichen die Tipping Points erreichen, so dass sich die guten und die richtigen Ideen in unserer Gesellschaft schneller durchsetzen.
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